Bundesweit tumultartige Szenen: Das 9-Euro-Ticket und seine Folgen

Bundesweit überall tumultartige Szenen auf Bahnhöfen in diesen Stunden. Pandemie egal, Sicherheit egal. Hauptsache Symbolpolitik. Entgegen aller Warnungen von Experten, Gewerkschaften, Polizei etc. Eine nachhaltige Tarifrevolution hätte langfristig viel bewirken können. Ein Kommentar.

Sieht so intelligente Politik während einer Pandemie aus? Hier in Hamburg.

Gestern an Tag 1, einem Freitag, war es noch ruhig. Dass aber mit Pfingsten, schönem Wetter und dem Billigticket für alle ein eher unheiliges Wochenende bevorsteht, war abzusehen. Wie überhaupt vieles davon abzusehen war. Trotzdem und von oben herab verordnet müssen alle das Chaos als Chance empfinden, egal wie es ausgehen wird. Eine irgendwie übergriffige, dümmliche und kurzfristige Politik. Warum diese harschen Worte? Warum nicht erstmal hoffen und das Gute erkennen? Warum schon am Anfang lamentieren? Ein Erklärungsansatz zu einem der unglaublichsten gesellschaftlichen Experimente der letzten Jahre:

Berlin Hauptbahnhof

Was gerade passiert

Dass es nicht schon gestern losging, stimmt eigentlich nicht. Auch gestern gab es schon vereinzelt 9-Euro-Schmerzen. Und das sehr, sehr tragische Unglück in Garmisch, was nicht mit dem 9-Euro-Ticket in Verbindung gebracht werden kann – und es auch nicht sollte. Der Zug war nachweislich nicht überfüllt. Nur die besten Wünsche und ein tiefes Mitgefühl geht an alle Opfer – an Verletzte, Hinterbliebene, Angehörige und auch an alle Geretteten. Viele von ihnen sind vielleicht gerade physisch unverletzt davon gekommen, haben jedoch traumatisches erleben müssen – viele werden davon krank werden und Hilfe benötigen. Das geht oft in solchen Momenten vergessen. Politiker versteigen sich derweil, wie der bayrische Verkehrsminister zum Beispiel, bereits in Vermutungen zur Ursache, was diesem Amt und auch moralisch absolut nicht würdig und ziemlich unangebracht ist. Andere Politiker wie Söder beten vor Ort – in einem säkularen Staat nicht angenehm, aber das ist ein anderes Thema. Jedoch kann dieses Verhalten trotzdem als besonders bigott empfunden werden, wenn Söder selber für manchen eher für eine verfehlte Energie- und vor allem Verkehrspolitik – kurzum Klimapolitik steht. Gerade die Opposition wird jegliche 9-Euro-Zahnschmerzen garantiert auszunutzen wissen.

RE90 nach Stuttgart

Nach dieser Differenzierung zurück zu Tag 2: Erste Meldungen kamen aus Berlin, zwei Züge konnten wegen Überfüllung nicht losfahren. Bilder aus Hamburg kommen dazu, die Bahn warnt in Schleswig-Holstein vor ähnlichen Geschehnissen auf ihrem dortigen Twitterkanal. Auch am Bodensee soll die Polizei räumen. Und im Netz tauchen eine Vielzahl an Videos auf, wo Menschen dichtgedrängt auf Bahnsteigen stehen, sodass jeglicher sicherer Zugverkehr nicht mehr möglich ist, geschweige denn die Fahrzeuge ein- oder ausfahren könnten. Solche Szenen sind gefährlich, denn gerammelt volle Unterführungen, Rampen, Bahnsteigkanten und Züge kann keiner bei einer Panik verlassen. Es führt unweigerlich zu einem Kollaps. Bereits tauchen erste Schlagzeilen wie “Chaos um 9-Euro-Ticket eskaliert!” auf. Wie konnte es so weit kommen?

Verkehrswende oder Verkehrsende?

Die Probleme

Volle Züge sind nicht nur unangenehm und das Blödste, was man mitten in einer Pandemie veranstalten kann, nein, sie sind ein technisches Risiko. Jeder Zug hat physikalische, ingenieurstechnische Auslegungen. Ältere Züge sind da etwas robuster, haben aber weniger Technik an Bord, diese Margen zu überwachen. Neue Züge hingegen wiegen jeden Passagier einzeln mittels Sensoren in der Luftfederung ab. Die Software stellt mit diesen Werten dann automatisch das Bremsverhalten, Federung und sogar die Klimaanlage des Zuges richtig ein. Ein schwerer Zug braucht mehr Bremskraft als ein leichter Zug. Bei alten Zügen berechnet der Zugbegleiter aufgrund der Spezifikationen von Wagen, Lok und Passagieraufkommen ein sogenanntes Bremsgewicht für den ganzen Zug. Zudem muss er eine Prüfung der Bremsen zusammen mit dem Lokführer zu festgelegten Zeitpunkten durchführen – vor Abfahrt. In Wahrheit ist es noch komplizierter – die lesenden Bahnmitarbeiter entschuldigen daher die grobe Darstellung im Kontext hier. Die wenigsten wissen, dass Zugbegleiter tatsächlich noch solche sowie andere hochsicherheitsrelevante Aufgaben erledigen und viel Verantwortung tragen. Viele Dinge sind genau dimensioniert, haben aber üppige Sicherheitsmargen: Verbindungen zwischen Wagen, Achslast etc. Wie jedes Fahrzeug verhalten sich aber volle Züge dynamisch anders als leere. Jeder Wagen oder Zug hat eine definierte Zulassung für ein bestimmtes Gewicht. Aus praktischen Gründen gibt es aber manchmal mehr Platz in einem Zug in Quadrat- und Kubikmeter, als sein zulässiges Zuladegewicht ermöglicht. U- oder auch manche S-Bahnen sind so ausgelegt, dass wirklich jeder Zentimeter belegt sein kann und trotzdem keine Gefahr besteht – bei anderen Zügen hingegen muss das nicht der Fall sein. Dass die Lademasse nicht überschritten werden, obliegt dem etwaig vorhandenen Zugbegleiter, dem Lokführer und immer öfter eben der Software, die bei Überladung blockiert. Allerdings kann diese Sperre auch überbrückt werden. Personal gerät unter Umständen im Alltag unter großen Druck. Der Arbeitgeber macht womöglich subtil Druck, der Verkehrsleiter im Fernsteuerzentrum drängt auf den Fahrplan, der Lokführer will losfahren, die Fahrgäste wollen alle mit. Unterwegs ist ein voll beladener Zug auch problematisch – nein, nicht wegen der unerreichbaren Toilette, sondern im Falle eines Falles. Es kann auch banal brennen, die Klimaanlage ausfallen und damit der Sauerstoff buchstäblich ausgehen oder einfach der Strom ausfallen. Dann, wenn evakuiert werden muss, wirds besonders haarig – denn in übervollen Zügen Türen öffnen und Leute fallen einfach direkt mehrere Meter die Böschung herab, ist gefährlich. Volle Züge können also unter Umständen schlechter oder gar nicht korrekt evakuiert werden. Im Fernverkehr kommen volle Züge auch oft vor – aber dort ist oft ein ganzes Team an Personal auf einem Zug anwesend, dass die Situation gemeinsam bewältigen kann. In der Pampa und in Bummelzügen eher selten. Einen Zug vor Abfahrt zu räumen, ist für die dort oft alleine eingesetzten Zugbegleiter eine Mammutaufgabe. Denn sie sind frontal den unzufriedenen Fahrgästen ausgesetzt. Das alles passiert im und vor dem Zug. An Bahnhöfen sieht es genauso übel aus – die Infrastruktur verkraftet die Menge nicht, wenn keine Evakuation oder gesundheitliche Hilfe mehr für Einzelne möglich ist oder gar der Zugverkehr gefährdet wird. Dass unter Stresssituationen Menschen zu Anarchie tendieren, kommt oft genauso erschwerend wie Alkohol oder Aggressionen hinzu. Der Freizeitverkehr mit ungeübten Bahnkunden ist da besonders anfällig für im Vergleich zu erfahrenen Stammpendlern, die wenig noch erschüttern kann.

Die Warnungen

Vor all dem haben Gewerkschaften, Berufsvereinigungen, Experten und so weiter gewarnt. Die Deutsche Polizeigewerkschaft DPolG sagte es extrem deutlich:

“Vor der Umsetzung hätte man mit den Behörden und Verkehrsunternehmen reden müssen. Aus sicherheitsspezifischer Sicht kann das 9-Euro-Ticket somit eine Katastrophe werden.”

Der Bundesvorsitzende der Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt

Die Machbarkeit eines 9-Euro-Tickets aus Sicherheitsaspekten betrachtet, wurde nicht geprüft. Selbst nach dieser Katastrophenwarnung änderte sich nichts. Die Politik wollte auf Teufel komm raus eine Antwort auf die drängende Inflation und mehrere Fliegen auf einen Schlag erwischen. Alleine der Umstand, dass der Zeitraum von Verkündung bis Umsetzung niemals für eine gute Planung ausgereicht hätte, ist schon problematisch. Dass Politik übergriffig über offensichtliche Warnungen und physische Beschränkungen wie Technik, Infrastruktur oder Personaldecke hinweg entscheidet, ist schwer zu rechtfertigen und ein Desaster.

Rheinland-Pfalz…

Die Fast-Food-Politik

Warum interessiert das jetzt alles den Klimablog? Weil eine nachhaltige Chance vertan wurde. Aber der Reihe nach: Eigentlich geht es nicht um Verkehrspolitik, sondern um Finanzpolitik. Das 9-Euro-Ticket ist eine Antwort auf die galoppierende Inflation und nicht auf die jahrzehntelange verschleppte und besonders von der letzten Regierung mit allen Mittel sabotierten Verkehrswende. Oder eben doch teilweise? Haben Ampelpolitiker tatsächlich die naive Hoffnung gehegt, dass etwas Salbe auf die Wunde den Beinbruch heilen wird? Brot und Spiele für inflationsgebeutelte Bürger- vor allem arme Bürger? Dass die Bahn und der ÖPNV ein riesiges Bürokratieproblem haben, ist lange bekannt. Waben, Zonen, Verkehrsverbünde, Anschlusstickets, Kombifahrscheine, Reservationspflichten oder auch nicht, unterschiedliche Regeln, Preise und Buchungssysteme, Supersparpreise, Plattformzwänge, digitale Wüste – ein organisch gewachsener Wust an Verleidungen einer jeden effizienten Fahrt mit den Öffis. Neben dem Tarifwahnsinn ist auch die Digitalisierung ein großes Problem. Während sich die Welt weiter dreht und ihr Verkehrswachstum erfolgreich mit digitalen Mitteln lenkt, herrscht in Deutschland weiterhin digitale Steinzeit, trotzt rasant steigender Fahrgastzahlen. Besser machen es viele Nachbarn: Die Niederlande, Schweiz, Finnland – um nur einige zu nennen, haben integrierte Apps, wo von Tür zu Tür über alle Verkehrsträger- und Systeme hinweg Reisen gebucht, organisiert, bezahlt und begleitet werden können. Check-in-check-out-Systeme sind dort das normalste der Welt. Ein Preis und Tarifsystem für alle Verkehrsmittel. Eine Karte oder eben App für alles. Vom Fahrradparkhaus über Zugfahrten bis zum U-Bahntickets und dem Öffnen von Drehkreuzen in Skigebieten, alles eine nahtlose Einheit. In diesen Ländern wird viel öfters mit dem öffentlichen Verkehr gefahren. Nicht nur, weil das Angebot fantastisch ist, sondern eben auch, weil der Zugang niederschwellig, einfach, verständlich und günstig ist. Deutschland schafft das nicht. Wer sich mit dem DB-Navigator oder Verbund-Apps schon einmal plagen musste, der weiß das ganz genau. Anstatt drei Monate Spaß und danach wieder Hölle – oder erlebterweise vielleicht gar eher umgekehrt – hätte man auch eine gut geplante Revolution angehen können. Eine bundesweiter Vereinheitlichung von Tarifsystemen – wenn das andere Länder auch hinkriegen, wieso wir nicht? Check-in-check-out kann man schlüsselfertig kaufen. Machen einige Verkehrsunternehmen schon. Dann muss keiner mehr rechnen, sondern bekommt automatisch und fair den günstigsten Tarif am Ende der Fahrt berechnet, wenn er öfters fährt, geschieht Ende Monat oder Jahr eine Umwandlung in entsprechende Abonnemente. Transparenz anstatt sogenanntes Yield-Management, wo mit dynamischen Preisen die Zitrone ausgepresst wird, weil sich das nationale Bahnunternehmen Konzern schimpfen und Profit machen muss. Was hätte sein können, wenn der Preis insgesamt gesunken, aber teurer als das frei erfundene 9-Euro-Ticket (alleine weil es lustig klingt, das muss man sich erstmal ausdenken!)? Mehr Menschen nachhaltig zum Umsteigen bringen, sanfte aber stetige Steigerung der Fahrgastzahlen, dadurch Mehreinnahmen für einen Ausbau. Eine dauerhafte soziale Umverteilung vom hoch subventionierten Autoverkehr für Reiche zu Ärmeren in den Öffis. Eine gut angelegte Kampagne, die es als schick und verantwortungsvoll verkauft hätte, jetzt dauerhaft fürs Klima auf Bus und Bahn zu wechseln, ein nationales Gefühl des Aufbruchs zu wecken – das wärs doch gewesen! Aufgeräumt, schmackhaft, fair und damit nachhaltig und klimatauglich. Aber nun wird es vielen Menschen geradezu vergällt, dramatische Bilder brennen sich ein. Womöglich auch noch Gewalt oder tatsächlich Personenschäden. Nach drei Monaten werden sich CDU und wahrscheinlich sogar die mitregierende FDP aufspielen können und das Drama ausschlachten. Milliarden hat es gekostet, fehlerfrei ist so etwas zwar nie, aber programmiert scheitern hätte es nicht müssen. Pragmatisch handeln, anstatt ewig zu diskutieren in allen Ehren – aber intelligente Verkehrspolitik mit Zukunft ist das 9-Euro-Ticket nicht. Spannend wird, was die Ampel im September aus der Situation machen wird.

Der Sommer: gefährlich voll.

Fazit

Anstatt eine intelligente, nachhaltige und dauerhafte Tarifrevolution, die auf lange Zeit soziale Umverteilung, CO2-Reduktion, Einnahmen für Ausbau usw. ermöglicht hätte, gibts schnelle und zeitlich begrenzte Pflaster mit Risiken und Nebenwirkungen und unabsehbaren Folgen. Das ist schlecht für das Klima, den ÖPNV als Ganzes, die Fahrgäste – besonders die belasteten Stammkunden – und auch für das Image nicht nur der Verkehrsunternehmen, sondern auch für das der Ampel und der Verkehrswende an sich. Weltweit instrumentalisieren Politiker gerade vernachlässigte Bahnen und versuchen daraus verzweifelt schnelle Erfolge zu basteln. Jeder von ihnen, der rhetorisch auch nur öffentlichen Verkehr in den Mund nehmen will (hör auf zu lachen, wie soll man das anders formulieren?!), der soll erst den Eintritt einer anständigen Finanzierung bezahlen. Gute Systeme kosten Geld, viel Geld. Wer länger als nur eine Legislaturperiode politisieren möchte, der soll jetzt Notstandsgesetze mit gigantischen Sondervermögen für eine nachhaltige Verkehrswende leisten. Ich schreibe ganz bewusst nicht mit dem grässlichen Sprech des Verkehrsministers, der hätte nämlich “auf den Weg” oder “auf die Schiene bringen” gesäuselt. Vielen Menschen wird das 9-Euro-Ticket auch Freude machen, gar das erste Mal überhaupt Ausflüge ermöglichen, darüber kann man sich wirklich freuen. Wir alle werden uns an diesen Sommer erinnern – die Frage ist nur, wie und woran genau. Hoffen wir das beste, denn für mehr ist es für zumindest die nächsten drei Monate leider zu spät. Klimapolitik ist das 9-Euro-Ticket nicht.

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