Die fantastische Renaissance der Nachtzüge

Einst waren Bahnreisen glamourös und luxuriös. Doch dann kamen die Billigairlines. Warum jetzt der sprichwörtliche Nachtzug nach Lissabon nicht nur das Reisen in Europa revolutionieren, sondern auch noch das Klima retten soll - und wer dafür verantwortlich ist sowie ein Blick in die neuen Züge.

Morgenluft für Nachtzüge – wie sieht die klimagerechte Zukunft des internationalen Reisens in Europa aus?

Dürfen wir jetzt wegen der Klimakrise etwa nicht mehr Reisen? Also das kann man den Leuten doch nicht wegnehmen! Solche Sätze hört man in letzter Zeit öfter. Wie wir schon beim Thema Verkehrswende ist Mobilität vor allem eine Frage der Alternativen. Und gerade bei zumindest kontinentalen Fernreisen gibt es diese. Nämlich Nachtzüge. Wenn man sich ihre Vorteile vergegenwärtigt und sie ins neue Jahrtausend holt, dann könnten sie zu echten Gamechangern werden. Und genau das haben jetzt Politik und eine Reihe von Startups wie auch etablierte Zugunternehmen vor. Das Gute daran, es geht schon jetzt damit los! Einsteigen bitte!

The night train is coming.
Got to keep on running.
Baker man is baking bread.
Baker man is baking bread. You′ve got to cool down.
Take it easy.
You’ve got to cool down.
Relax. Take it easy. Slow down relax…

Laid Back – Bakerman
Der berühmte Orient-Express. So reiste man früher – oder heute wieder auf Schienenkreuzfahrten von Indien über Afrika bis Australien.

Was war

Es gibt Dinge, bei welchen nur schon die Nennung des Begriffes sofort Klischees und Erinnerungen geweckt werden. Nachtzug ist so einer. Großartige Jugendstil-Bahnhofshallen im Dämmerlicht, Züge aus der Belle Epoque, wie etwa der Orient Express. Oder gediegene Speisewagen, mit Taschentuch winkende Zurückgebliebene – wie im Film halt. Bei anderen sind es eher die Sechserabteile von Abifahrten, enge Gänge und das Rauschen durch die Nacht. Als das Flugzeug noch nicht das Verkehrsmittel der Wahl war, konnte man nur mit Zügen auch weite Strecken zurücklegen. Sie waren etwas für die Oberschicht. Vor allem Luxus wie tief mit Brokatstoffen gepolsterte Ohrensessel, mit erlesenen Hölzern getäfelte Kabinen und Personal, welches einem das mehrgängige Menu serviert, im Salon Tee nachschenkt, die Kissen aufschüttelt oder mit den Koffern hilft. Reisen im Zug muss einst fantastisch, aufregend und bequem gewesen sein. Gerade in Deutschland liegt uns diese Vorstellung momentan ferner denn je zuvor. In manchen Weltregionen sind Nachtzüge explizit Verkehrsmittel für ärmere Menschen, bei uns ist es eher umgekehrt, Züge sind teurer als Flugzeuge geworden. Der Trend zu Billigfliegern hat die Nachtzüge zuletzt ziemlich verdrängt. Bis eigentlich noch vor kurzem gab es ein fast europaweites Netz, welches große und auch kleine Städte verbunden hat. Von Barcelona, Rom, Wien über Paris und Brüssel bis Budapest, ja sogar Moskau. Man fuhr spät Abends los und war meistens in der Früh am Ziel. Die Deutsche Bahn war ein wichtiger Player, denn Deutschland liegt zentral im Herzen von Europa. Manch einer kennt noch die Marke City-Night-Line. Da waren auch ziemlich fortschrittliche Wagen dabei, mit Duvetbezügen, eigener Dusche im Abteil und Frühstück am Bett. Also wie im Hotel. Meistens gab es zwei oder drei Klassen mit Bett, Pritsche oder Liegesessel. Doch 2016 gab die Bahn bekannt, es lohne sich nicht mehr, sie werde alle Angebote einstellen.

Moderne Züge bringen den Nachtzug ins neue Jahrtausend.

Was ist

Zur gleichen Zeit gaben auch andere Länder Nachtzüge immer mehr auf, trotz Protesten von Fans und Stammkunden. Verbindungen in Spanien, Italien und Frankreich wurden nach und nach eingestellt. Beim deutschen Geschäft jedoch sprang ab 2017 die ÖBB ein. Und sie schaffte, was die Bahn für unmöglich verkauft hat – sie baute ein europäisches Netz auf und ist heute führend in dem Bereich. Es geht also. Mit der Marke Nightjet verbindet sie mit vielen, inzwischen auch neuen Zügen, auf 19 Linien halb Europa und schreibt sogar Gewinne. Dabei eingestiegen sind auch die Schweizer Bundesbahnen und haben angekündigt, mit Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich zusammen wirklich an das TEE-Konzept anzuknüpfen. Alle Verkehrsminister dieser Länder haben dazu eine Kooperation beschlossen. Rom, Barcelona, Prag und weitere zusätzliche Destinationen sind fix angekündigt. Gerade angesichts der Klimakatastrophe und des aus Schweden stammenden Begriffes Flugscham kommt nun wieder Leben zurück ins Nachtzuggeschäft. In Deutschland gingen kürzlich Snälltaget, ein schwedischer Anbieter, an den Start und verbindet Berlin mit Stockholm. Ab Frühling 2023 folgt Berlin-Amsterdam-Brüssel durch European Sleeper. Auch nach Ungarn und Kroatien kann man ab Deutschland im Moment reisen. Eine Reihe von weiteren Projekten steht in den Startlöchern. Wer zuerst kommt, der steckt den Markt ab. Die neuen Anbieter kämpfen einzig damit, dass sich ihre internationalen Züge jeweils in Deutschland genau wie ihre Pendants tagsüber wegen Baustellen und einem maroden Netz auch in der Nacht verspäten.

Die ÖBB macht, was der Deutschen Bahn nicht gelingen wollte.

Was jetzt wird

Die Nase vorn hat weiter die ÖBB mit Nightjet. Sie hat quasi den Nachtzug neu erfunden. Nach den ersten Erfolgen mit von der Deutschen Bahn übernommenem Rollmaterial, hat sie nun selber neue Züge in Auftrag gegeben. Das Ergebnis ist phänomenal. Fertig mit Massenabteilen, jetzt gibt es eine Art übereinanderliegende und einzeln verschließbare Minikabinen, aber auch luxuriösere Abteile für Reisen alleine, zu zweit oder mit der Familie. Tolles Design, moderne Annehmlichkeiten und guten Service zu günstigen Preisen. Eine Willkommenstasche wie in der Businessklasse bei Airlines und sichere Gepäckaufbewahrung. Man kann auch sperrige Stücke wie Skis oder Fahrräder usw. mitnehmen, Licht und Heizung per Touchscreen steuern und Handys laden. Insgesamt gibt es mehr Privatsphäre und das Angebot kommt in Pandemiezeiten genau richtig.

Fast wie im Hotel. Es gibt dabei verschiedene Preisklassen und mehr Privatsphäre als früher.
Die günstigste Kategorie bilden diese Schlafkabinen.

Das Startup Midnight Trains will zentral von Paris aus Urlaubsziele in Spanien und Italien, Städte in Großbritannien und Skandinavien, aber auch Deutschland anbinden. Gestartet wird schon 2024. Das Ziel seien mindestens 10 Linien/Destinationen. Hürde für das Unternehmen ist es, gebrauchte Wagen bzw. bezahlbare neue aufzutreiben. Ohne staatliches Großunternehmen im Rücken, wie in Österreich, sind Entwicklungskosten für neue Züge teuer, zumal es fast keine Hersteller mehr gibt. Ältere Modelle aufzufrischen, ist ebenfalls aufwändig. Das Unternehmen wirbt damit, dass seine Züge ein Hotel, ein Restaurant und eine App sein sollen, welche Europa verbinden.

Zum Vergleich, hier das Konzept von Midnight Trains aus Frankreich. An veraltete Züge mit Stockbetten wie im Landschulheim erinnert hier nichts mehr.

Warum überhaupt?

Ja, was sind denn überhaupt die Vorteile von Nachtzügen? Sind die nicht aus gutem Grund aufgegeben worden und irgendwie schon ziemlich aus der Zeit gefallen? Zeit ist ein Stichwort. Gerne wird bei Reisen nur die Zeit vom Start bis zum Ziel des Verkehrsmittels gezählt. Also Abflugzeit bzw. Abfahrt bis Ankunft. Doch gerade bei Flugreisen muss man erstmal an den Flughafen kommen, einchecken, Sicherheitskontrollen durchlaufen, warten, Zeitreserve einrechnen, Boarding, Gepäckband, je nachdem Einreisekontrolle und wieder Transfer vom Flughafen in die Stadt. Das alles dauert und oft ist dann die Zeit vor und nach dem Flug um einiges länger als der Flug selber. Weil Flugzeuge nachts auf vielen Flughäfen nicht landen dürfen, reist man also tagsüber. Man verliert dabei Urlaubszeit, ein Tag geht für die Reise drauf und eine Hotelübernachtung braucht man auch noch. Indessen steigt man in den Nachtzug im Zentrum einer Stadt ein – ohne all die Hürden. Zollformalitäten werden unterwegs erledigt und die Übernachtung spart man sich auch. Am nächsten Morgen wacht man in einer anderen Stadt auf. Wer keine Abteil mit eigener Dusche gebucht hat, findet wie z.B. in Zürich an Bahnhöfen solche, also quasi dieselben Services wie an Flughäfen auch. Rechnet man also Hotel, den Airport-Express, den Flug, weitere Gebühren wie für Gepäck usw. zusammen, ist fliegen gar nicht mehr so günstig und verdammt anstrengend. Nach der einen Reise ist man erfrischt und ausgeschlafen, nach der anderen meist genervt und todmüde. Und fliegen wird nicht besser, eher immer mühsamer. Ich will ja gar nicht das Flugzeug aus der Perspektive des reinen Verkehrsmittels schlecht reden, aber Nachtzüge können mit ihren Vorzügen eine echte Konkurrenz sein. Warum ging also bisher nicht mehr?

Bequemer als fliegen, ohne Umsteigen und zusätzliche Hotelübernachtung direkt von Stadtzentrum zu Stadtzentrum.

Politik

Du ahnst es, wegen der Politik. Fliegen wird schlicht und einfach stark subventioniert und der Markt damit einseitig zum Nachteil der Eisenbahn verzerrt. Nehmen wir das Jahr 2016 als Beispiel vor der Pandemie, da waren es laut BUND ganze 11,8 Milliarden Subventionen für den Flugverkehr. Im internationalen Fernverkehr zahlt man bei der Bahn Mehrwertsteuer, Flüge sind hingegen davon befreit – zusätzlich auch von Energie- bzw. Kerosinsteuern. Bei der Bahn erhebt Deutschland die mit Abstand höchste Stromsteuer von ganz Europa. Und dann sind da noch die Trassenpreise, sie machen zwischen 20 und 30 Prozent der Kosten für einen Anbieter aus. Je nachdem, durch welche Länder er fährt und welche Route er nimmt. Denn Nachtzüge fahren genau deswegen üblicherweise nicht auf den Schnellfahrstrecken, sondern über langsamere Bummelgleise – die Fahrzeit fällt ja nicht so ins Gewicht. Zudem fahren Nachts viele Güterzüge und der Nachtzug muss sich durchschlängeln. Doch jetzt drohen Klimaabkommen, gesetzte Klimaziele – ja schlicht und einfach die Klimakatastrophe. Und Politiker sind händeringend gezwungen, Lösungen zu finden. Eine gewichtige könnte eben der Nachtzug sein. Ohne Reisezeitverlust in der Nacht reisen, am besten in neuen Hochgeschwindigkeitszügen, welche die oft (im Ausland zumindest) nicht für Güterzüge gebauten Turbostrecken ausnutzen und so auch sehr weite Strecken wie z.B. Norddeutschland nach Spanien möglich machen könnten. Also mit 300 km/h anstatt gemütlichen 80. Die neuen Züge der ÖBB können bereits auf Schnellfahrstrecken fahren.

Nicht mehr brandneu, dafür gemütlich – der schwedische Anbieter Snälltaget verbindet neuerdings Berlin über Hamburg mit Malmö und Stockholm.

2020 gab ausgerechnet Andreas Scheuer bekannt, dass er das legendäre transeuropäische Bahnnetz, kurz TEE für Trans-Europe-Express, wiederbeleben will. Das hat er damals wohl eher wahlkämpfend gesagt, doch die Idee fand zumindest Eingang in das EU-Ratsprogramm 2020. Im Jahr zuvor wurde der Green new Deal beschlossen, also das Ziel, dass die EU bis 2050 klimaneutral werden will. Dabei spielen Nachtzüge eine wichtige Rolle. Sie sollen Kurzstreckenflüge weitgehend ersetzen. Man könnte also einst über Nacht aus deutschen Städten nach Barcelona fahren und dann noch mit einer Schnellfähre nach Mallorca. Das müsste in doppelstöckigen Superhochgeschwindigkeitszüge nicht teurer als fliegen sein – nur viel bequemer. Und vom Urlaub hat man auch noch mehr, wenn nicht zwei ganze Tage nur mit Reisen draufgehen. Es gibt bereits Machbarkeitsstudien dazu.

Dafür müssen viele Hürden bei Infrastruktur, Tarifen und eben auch Trassengebühren abgebaut werden. Das fordert die Europäische Eisenbahnagentur übrigens schon lange. Technisch ist es nämlich möglich. Es gibt gar Konzepte, Schlaf- und Güterwagen im selben Zug zu kombinieren, um den Verkehr rentabel zu machen. Aber die Länder haben bisher lieber die internen Netze, wie in Frankreich und Spanien radikal föderalistisch und gar zentralistisch ausgebaut, anstatt sich transkontinental vernetzt. Und das Reisen in einem Bett schlägt enge Flugzeugsitze allemal. Dafür muss man aber den Flugverkehr, wie jetzt in Frankreich geschehen, regulieren und das Prinzip bei den Steuern umkehren. Das wäre sowieso schon längst für den ganzen restlichen Bahnverkehr tagsüber angesagt. Mehrere staatliche Bahnkonzerne, darunter auch die Deutsche Bahn, fordern mittlerweile offen von der EU-Kommission, dass sie da Verantwortung übernimmt und hohe Gebühren wie Steuern abschafft, sonst wären die hochtrabenden Träume von einem Nachtzugnetz kaum umsetzbar bzw. finanzierbar.

Ein Konzept von den Grünen: Diese Karte zeigt ein fiktives Nachtzugnetz, welches mit 40 Linien insgesamt 200, perspektivisch sogar 500 Städte in Europa untereinander verbinden soll.

Fazit

Auch wenn uns Nachtzüge eher nostalgisch erscheinen, waren sie nie ganz weg, aber die letzten 20 Jahre arg unter Druck von hoch subventionierten Billigfliegern gekommen. Mit fairen Wettbewerbsbedingungen gegenüber dem Flugzeug mit Aufhebung von Mehrwertsteuern, Senkung von Strom- und Trassenpreisen, einer internationalen Buchungsplattform sowie geschlossenen Lücken bei Infrastruktur und mit viel schnelleren Hochgeschwindigkeitszügen könnte Europa den Fernverkehr buchstäblich über Nacht sehr klimafreundlich gestalten. Wenn man sich dazu auch überlegt, welche Strapazen und Umwege Flugreisen wirklich heutzutage bedeuten, haben moderne Nachtzüge eine glorreiche Zukunft. Und weil immer mehr Unternehmen diese Morgenluft wittern, schießen neue Verbindungen gerade wie Pilze aus dem Boden. Jetzt ist es an der Politik, über bloße Lippenbekenntnisse an schicken Presseterminen hinaus ins Handeln zu kommen und konkrete Umsetzungsvorschläge zu machen. Auch der Geldhahn in Brüssel im Rahmen des Green new Deal darf ordentlich aufgehen. Am Unwillen der Passagiere bequemer zu reisen, liegt es nämlich nicht.

Und hier noch ein Bonus zum Schluss. Zwar keine wirklichen Nachtzüge, aber dafür eine wunderschöne Hommage ans Zugreisen in der Nacht, bei der eine entrückte Romantik à la Polar-Express aufkommt. Wers eilig hat, vorspulen bis Minute 1:35. Deutschland muss wieder lernen, dass anderswo auf der Welt Zugfahren sogar Spaß macht.

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