Ein leises Klicken und die Tür ist geschlossen. Plötzlich ist der Lärm der Großstadt weg. Die Fahrzeug neigt sich zur Seite, als es kraftvoll beschleunigt wird. Ein zweites Klicken und jetzt hat es sich ans schnell laufende Seil geklemmt. Fast schon spektakulär stürzt sich die Kabine über die steil abfallende Klippe mitten in der Hauptstadt in Richtung Zentrum. Maria Hernandez stützt ihren Kopf auf den Arm und den Ellbogen auf die der Armlehne. Ihr Blick geht durch die bodentiefen Fenster in die Ferne. Das Häusermeer. Die kleinen Menschen und Autos, die vielen Minibusse im Stau unter ihr und auf der sich den Hang hinunter windenden Schnellstraße. Diese herrliche Ruhe, ja fast schon Stille. Ein sanftes Rauschen, als die Kabine über die Stütze gleitet, denn die Federung buttert jegliche Erschütterungen weg. Ein Gong ertönt und eine Stimme sagt die nächste Station und deren Umsteigebeziehungen zu weiteren Linien des öffentlichen Gondelbahnnetzes an. Maria wird noch nicht sitzenbleiben und weiter fahren, um ein paar Stationen später auf die türkise Linie zu wechseln. Ihre Arbeitsstelle im Haushalt einer begüterten Familie befindet sich ganz in der Nähe eines Bahnhofes des “Mi Teleferico”-Systems. Seit sie für ihren Arbeitsweg das weltweit größte Nahverkehrsnetzwerk von Seilbahnen in La Paz, Bolivien, benutzt, hat sie viel mehr Zeit für ihre Familie. Früher hat ihre Reise mehr als eineinhalb Stunden in überfüllten und stickigen Minibussen gedauert, um vom ärmeren Plateau von El Alto in den reicheren Talkessel mit dem Stadtzentrum hinunter zu gelangen – jetzt sind es nur noch etwas weniger als 30 Minuten.
Herzlich willkommen zur Beitragsserie über urbane Seilbahnen! Wie Maria geht es mittlerweile vielen Menschen in Südamerika. Unzählige solche Bahnsysteme sind gebaut worden und verändern das soziale Zusammenleben, die Bildungschancen, Gesundheit und sogar die Mordrate in den neu angeschlossenen Stadtvierteln dramatisch. Noch sind wir in Europa nicht so weit, aber es gibt fast keine größere Stadt mehr auch bei uns, die nicht mindestens darüber spricht oder sogar schon konkrete Pläne hat. Was hat ausgerechnet Seilbahnen zu einer so hoffnungsvollen Mobilitätsrevolution werden lassen? Da die Antwort und das Thema unglaublich spannend ist, besteht sie aus 5 Teilen:
Teil 1 – Was sind urbane Seilbahnen und was macht sie so faszinierend?
Teil 2 – Der Aufstieg: Erste Projekte, der Hype und die sozialen Folgen
Teil 3 – Die Ankunft in Europa und die Herausforderungen auf dem alten Kontinent
Teil 4 – Technik, Wirtschaft, Leistung und autonomes Fahren
Teil 5 – Die Eröffnung der ersten großen Bahn in Europa im Mai 2022
Was sind urbane Seilbahnen?
Auf alle Fälle keine neue Erfindung, aber ein tolles Beispiel für innovatives Denken. Seilbahnen in städtischen Gebiet gab es, seit es Städte gibt. Oft als Ausflugsbahnen wie in Rio de Janeiro auf den Zuckerhut, oder beliebig auf jeden anderen Hausberg in vielen Städten dieser Welt. Als Mobilitätslösung habe sie bisher jedoch eher ein Nischendasein geführt, wie wie Beispiel die als vorläufiger U-Bahn-Ersatz gedachte Roosevelt Island Tram in New York. Aber was hat sich jetzt geändert? Die Antwort ist eine Mischung zwischen Technologie, Mindset, Städteplanung und Klimakatastrophe. Urbane Seilbahnen, sind Verkehrssysteme, die wir vor allem aus den Bergen kennen, aber eben genauso gut in Städten eingesetzt werden können, um spezifische Verkehrsprobleme zu lösen. Vor allem sind sie aber Lösungen für sehr dringende Probleme: Stau, Ausbau öffentlicher Nahvekehr, Elektrisierung Verkehr, Platzverteilung in der Stadt, Reduktion CO2 bei Infrastrukturprojekten, Reduktion von Klimagasen während dem Betrieb, Ressourcenschonung dank Materialeinsparungen und das alles in absolutem Rekordtempo. Genau das können urbane Seilbahnen. Darum werden sie plötzlich nicht mehr belächelt und als Freizeitparkattraktion abgetan, sondern feiern gerade einen wahren Siegeszug rund um den Globus. Dass sie aber noch viel mehr können und unseren Alltag komplett verändern werden, das ist in den Städten bereits zu erahnen, die schon über solche moderne urbane Seilbahnen verfügen.
Kurzes Einmaleins der Seilbahnen
Für in der Fachsprache “Seilgezogene Transportsysteme” gibt es umgangssprachlich viele Begriffe. Luftseilbahn, Gondelbahn, Seilbahn oder auch Zahnradbahn (was gar keine Seilbahn ist), Standseilbahn, Kabinenbahn etc. Unterscheiden kann man unter den seilgezogenen Systemen zwischen zwei Arten, solche die in der Luft verkehren und solche die am Boden ebenfalls durch Seile bewegt werden. Diese Serie befasst sich vor allem mit denjenigen in der Luft, geht aber auch kurz im 5. Teil auf die anderen Arten ein. In der Luft wiederum gibt es auch Unterarten. Solche mit einem Zug- und einem Tragseil, solche mit einem Zugseil, dass gleichzeitig auch das Tragseil ist – sogenannte Einseilumlaufbahnen und eher neuer die 3S-Bahnen, auch Dreisleilbahnen genannt. Letztere haben zwei Tragseile und ein Zugseil. Das macht sie vor allem sehr windstabil, lässt sie sehr große Distanzen ohne Stützen zurücklegen und die Kabinen sind wesentlich größer und fassen bis zu 30 Personen pro Kabine. All diese Systeme verkehren kontinuierlich drehend mit vielen Kabinen in kurzem Abstand. Das was die meisten unter Luftseilbahn kennen sind hingegen meist zwei große Kabinen, die im Pendelverkehr funktionieren, auch als Pendelbahn bezeichnet. Da passen bis zu 200 Personen in eine Kabine. So viele wie in manche Straßenbahnzüge. Diese werden aber vor allem alpin oder an Orten mit nicht so hoher Föderleistung eingesetzt. Denn pro Fahrt kann da immer nur die Anzahl der Kabinenfassungsvermögen an Fahrgästen befördert werden. Je länger die Strecke, je weniger oft kann die Bahn den Weg in einer Stunde zurücklegen und das bedeutet eine niedrige Förderleistung. Einseilunlaufbahnen mit vielen Kabinen schaffen aber bis 4000 pro Stunde und Richtung, Dreiseilbahnen sogar 5000 und mehr.
Warum könnten sie der Schlüssel zur Zukunft sein?
Weil viele im Kopf die noch engen, kleinen Kübel von Gondeln im Skiurlaub kennen, in die 4 Personen reingequetscht gerade so Platz haben, denken auch die meisten nicht wirklich an ernstzunehmende und vollwertige Bahnen, die Straßenbahnen, Busse oder ähnlichem Konkurrenz machen könnten. Aber durch die enorme technologische Entwicklung in dem Bereich haben die heutzutage meistinstallierten Standardbahnen ab der Stange pro Kabine Platz für rund 10 Personen. In Stehhöhe, mit Platz für Rollstühle, Kinderwagen, Gepäck usw. Beleuchtung, Sicherheitskameras, Kommunikation, Informationsbildschirme und bequeme Sitze gehören ebenso zur Standardausstattung – kurzum alles was auch in anderen öffentlichen Verkehrsmittel zu finden ist. Das Bahnbrechende an Bergbahnen in der Stadt ist – tadaa – nicht nur die Technik, sondern vor allem der Preis! Seilbahnen sind im Vergleich zu anderen Verkehrslösungen viel schneller, günstiger und flexibler zu installieren. Innerhalb weniger Wochen kann der elektromechanische Teil theoretisch schlüsselfertig ausgeliefert, aufgebaut, getestet und in Betrieb gesetzt werden. Die Stationsbauten brauchen weniger Platz als z.B. Eisenbahnen und der Fahrweg ist das Seil, welches in nur einem Tag eingezogen werden kann. Das ist der Hauptgrund, warum in Südamerika viele arme Stadtgemeinden mit dieser Lösung plötzlich Massenverkehrsmittel für ihre Bewohner zur Verfügung stellen können. Weil das so überzeugend funktioniert, kommen langsam auch europäische Städte auf den Geschmack, zumal die Technologie eigentlich von hier kommt und zum großen Teil auch hier produziert wird. Politiker können theoretisch noch in derselben Legislaturperiode das Band durchschneiden. Jetzt, wo die Verkehrswende plötzlich drängt, ist dieses Argument besonders verlockend. Aber da ist noch mehr.
Die Dritte Dimension
Richtig spektakulär wird es, wenn man die Stadt plötzlich in drei statt nur zwei Dimensionen beim Verkehr denkt. Gondelbahnen können über alle Hindernisse hinweg schweben und so auf dem direktesten Weg zwischen zwei Punkten verkehren. Mit bis zu 7,5 Meter pro Sekunde und ohne Umweg ist die Seilbahn tatsächlich sogar konkurrenzlos schnell für Durchschnittsgeschwindigkeiten in der Stadt. Mit dem Nachteil, dass Stationen eher alle 700 bis mehr als ein Kilometer technisch sinnvoll sind, während Buße alle 300 Meter oder mehr anhalten. Auch sind Kurven zwar möglich, aber aufwändig und teuer bzw. oft direkt als Richtungsänderung in Haltestellen eingebaut. Da die Seilbahn aber an viele Orte hinkommt, wo andere Verkehrsmittel keine Chance haben, fällt die Flexibilität bei den Stationen nicht so ins Gewicht. Solche Bahnen können Steigungen, Flüsse, Seen, Gebäude, Straßen und vieles mehr einfach überbrücken. Und bis auf die wenigen Stützenstandorte, wo nur wenige Quadratmeter Fundament nötig sind, braucht es dafür auf der Strecke keine Infrastruktur. Kein Tunnel, keine Brücken, keine Fahrleitungsmasten, keine Fußgängerwege oder was sonst alles noch für U- oder Strassenbahnen nötig ist. Das macht die Gondelbahnen konkurrenzlos billig und eben sehr, sehr schnell zu bauen. U-Bahnen brauchen mit dem ganzen Vorlauf zwischen 10 und 25 Jahren bis zur Vollendung. Seilbahnen nur Monate. Dafür halten die Bahnen nicht ganz so lange. Eine Einseilumlaufbahn wird zwischen 30 und 40 Jahren alt, eine Dreiseilbahn bringt es bei guter Pflege auf 50 oder gar 60 Jahre, da sie weniger bewegliche Verschleißteile wie viele Stützrollen besitzt. Natürlich sind sie danach nicht nicht mehr zu gebrauchen, bedürfen jedoch einer Sanierung. Das ist aber bei den anderen Verkehrsmittel auch so. U-Bahnen werden aber, weil sie kapitalintensiv sind, für viel größere Zeitspannen gebaut. Ändert also die Nachfrage, hat man mit einer Seilbahn keinen Fehler gemacht. Möchte man ein Gebiet entwickeln, dann kann die Seilbahn auch ein guter und günstiger Vorläufer sein. Der Erfolg in Südamerika ist genau diesem Mix an Vorteile zu verdanken. Günstig, schnell und kommt in jeden Winkel. Denn die ärmeren Stadtviertel befinden sich in diesem Teil der Erde praktisch immer an Hanglage und es ist wenig bis keine Infrastruktur wie Abwasser oder befestigte Straßen vorhanden. Mit Seilbahnen kommt man jetzt aber plötzlich auf direktestem Weg in diese Armenviertel hinein und das ändert für diese Menschen alles. Mehr dazu in Teil 2.
Das Rennen hat begonnen
Vorreiter war ganz klar die Stadt Medellíin. Nach diesem Vorbild, wo die Metrolinie im Tal mit den Vierteln am Hang verbunden wurde, sind dann in den letzten Jahren plötzlich viele ähnliche Gondeln auf demselben Kontinent aus dem Boden geschossen in Städten wie Rio de Janeiro, Caracas, La Paz, Santo Domingo, Santiago de Chile, Mexico City und vielen mehr. Nachdem man auch die sozialen Einflüsse gesehen hat und sich für Anwohner die Lebensqualität verbessert hat, ist fast schon ein Seilbahnfieber ausgebrochen. Metrocable, Cablebus, MiTeleferico heißen die Netzwerke und können wie in La Paz aus bis zu 11 zusammenhängenden vernetzten Linien mit dort bis zu 36 Stationen bestehen. Kreuz und quer, überallhin. Oft sind sie aber an U- oder Hochbahnen angeschlossen und dienen als Feinverteiler für die letzte Meile. Und genau das ist besonders in Europa interessant. Städte, die sich immer mehr ausdehnen und nach außen immer dünner besiedelt sind, haben das Problem, dass die kapazitätsstarken Verkehrsmittel mit der abnehmenden Dichte auch weniger rentabel werden. Zumal Infrastruktur- und Personalkosten sehr hoch sind. Seilbahnen hingegen bieten den gleichen Komfort, alle paar Sekunden eine Fahrmöglichkeit und damit den weitaus besseren Fahrplan in Randlage und haben fast keine Personalkosten. Der Marktführer hat sogar kürzlich völlig autonome und automatische Gondelbahnen vorgestellt, die komplett ohne Personal auskommen. Der letzte Schritt der Entwicklung sind sogar wählbare Fahrziele pro Kabine, Bahnsteigtüren wie bei modernen fahrerlosen Metros und selbstfahrende Kabinen. Mehr in Teil 4.
Fazit
London und Berlin haben schon urbane Gondelbahnen, welche zwar zu Freizeitzwecken gebaut wurden, jetzt aber nach dem südamerikanischen Vorbild in die öffentlichen Tarife eingebunden und zu einem Teil des städtischen Nahverkehrs umgewidmet werden. Im französischen Toulouse hingegen hat jetzt gerade die erste urbane Dreiseilbahn eröffnet, also eine Bahn mit sehr großen Kabinen. Ein spektakulärer Modellfall – genauer beleuchtet in Teil 5 dieser Serie. Paris eröffnet auch in bald das erste System mit Zehnerkabinen, welches als Verlängerung von Metrolinien dient. Mitten in der Stadt. Derweil wird in fast allen anderen europäischen Städten mittlerweile an möglichen Anwendungen rumstudiert und diskutiert. Auch in Deutschland. Es gibt Pläne in Berlin, Köln, München, aber auch mittelgroßen Zentren, wo die Seilbahnen mit mittlerer Kapazität besonders gut hinpassen.
Noch scheitern viele Projekte aber eher an Kulturfragen, vielen Anwohnern und Fahrgästen fehlt schlicht die Vorstellung davon. Sicherheitsfragen wie Feuer, Evakuierungen oder Zonenplanungen überfordern Ämter, die noch gar nicht auf diese völlig neue Verkehrsform vorbereitet sind. Dabei ist schlicht fast kein Nachteil an den sauberen, leisen, günstigen, elektrischen und damit sehr klimafreundlichen Verkehrslösungen zu finden. Nein, der Klimablog ist nicht gesponsert von Seilbahnbauern, aber nach etwas Beschäftigung mit dem Thema ist die Faszination für ein Verkehrsmittel, welches unsere Städte so disruptiv wie damals Eisenbahnen oder später das Auto verändern, prägen und ergänzen könnten, groß. In vielen Ländern auf fast allen Kontinenten stehen unzählige Projekte kurz vor der Verwirklichung oder befinden sich schon im Bau. Du kannst dir das alles beim Begriff Seilbahn immer noch nicht vorstellen? Dann bleib hier dran, abonniere den Klimablog auf Twitter oder Mastodon und sei gespannt auf die nächsten Teile. Denn wir schauen uns diese im wahrsten Sinne des Wortes bahnbrechende Revolution genauer an. Wir gehen dahin, wo sie schon angekommen ist, wir werden mitfahren und von den Menschen hören, die damit schon täglich ihr Leben gestalten und sich nichts mehr anderes vorstellen können. Wir sehen uns in der Fortsetzung in Teil 2.
Teil 1 – Was sind urbane Seilbahnen und was macht sie so faszinierend?
Teil 2 – Der Aufstieg: Erste Projekte, der Hype und die sozialen Folgen
Teil 3 – Die Ankunft in Europa und die Herausforderungen auf dem alten Kontinent
Teil 4 – Technik, Wirtschaft, Leistung und autonomes Fahren
Teil 5 – Die Eröffnung der ersten großen Bahn in Europa im Mai 2022