Urbane Seilbahnen – die Zukunft im Himmel, Teil 2

In Südamerika haben urbane Seilbahnen als klimaschonendes Transportmittel Städte völlig verändert. Mit sozialen Folgen von Mordrate über Bildung bis Kindersterblichkeit.

Der gellende Schrei von Mariangel ging durch Mark und Bein. Er war sicher in der ganzen näheren Nachbarschaft zu hören. Die rohen, orangefarbenen Backsteinwände sind hier dünn und das Dach nur aus Wellblech schützt kaum vor der Tageshitze. Es ist schon dunkel und das Licht der LED-Birne nicht gerade hell. Mariangel liegt auf dem Bett, ihr steht der Schweiß auf der Stirn und sie atmet schwer, die Augen sind angestrengt leer. Sie ruft mit schwacher Stimme nach Gonzalo in der Küche, “Tienes la bolsa?” – Hast du die Tasche? “Si, no te preocupes, per tenemos que irnos ahora!” – Ja, mach dir keine Sorgen, aber wir müssen jetzt sofort los! Gonzalo kramt hastig die paar notwendigen Sachen zusammen. Als sie die Türe hinter sich schließen, stützt Gonzalo Mariangel seitlich so gut es geht und sie hasten die abschüssige Gasse hinunter. Sie haben es nicht weit. Als sie sich dem großen Betongebäude nähern, sind es nur noch wenige Schritte. Gonzalo hält die Scheckkarte an den Leser und sie nehmen gleich den Aufzug. Mariangel hält sich den Bauch – es geht wieder los. Sie verzieht schmerzvoll das Gesicht. Als sie auf der Plattform ganz oben ankommen, muss sie Gonzalo fast tragen. Sie gehen direkt an den hinter den Absperrungen wartenden Fremden vorbei. Ribeiro kommt ihnen entgegen, er hat sie schon erwartet. Auf dem Tablett in seiner Hand tippt er etwas ein und die riesige Maschine wird plötzlich leiser. Sie steigen in die “Burbuja” – die “Blase”. Mariangel wimmert leise “No queda mucho tiempo” – es bleibt nicht mehr viel Zeit. Gonzalo hat große Angst, versucht es aber so gut es geht zu verbergen. Er nickt Ribeiro dankbar zu. Die gläserne Türe schließt sich. Jetzt sind sie alleine. In Sicherheit. Draußen geht Ribeiro zurück in den Kommandostand. Mit einer wuchtiger Energie wird die Kabine in den Nachthimmel hinausgeschleudert, direkt über die Millionenstadt unter ihnen. Nach wenigen Minuten schreit Mariangel plötzlich wieder “No puedo más, no más, Gonzalo, no más!” Gonzalo weiß nicht, was er tun soll – er drückt verzweifelt die rote Taste neben ihm. Licht geht an und Robeiros Stimme kommt aus dem Lautsprecher. Er beruhigt Gonzalo und teilt beiden mit, dass er sie auf seinem Bildschirm sehen kann und der Krankenwagen schon auf sie wartet, wenn sie ankommen. Maria rinnen Tränen über die Wangen, sie schaut Gonzalo an. “Vamos a tener und hijo!”, wispert sie schwach und glücklich – Wir werden einen Sohn haben! Die jetzt hell erleuchtete Kabine in der Dunkelheit, die Ruhe und das fast unhörbare Surren haben etwas unglaublich friedliches. Sie spüren nichts von der Reise. Das Blinken des Rettungswagens ist schon zu sehen, als sie sich dem Gebäude unter ihnen rasch nähern. Jetzt wird alles gut.

Das Leben ist jetzt ein anderes!

Nein, das ist kein Sience Fiction-Film, kein Hubschrauber oder CSU-Flugtaxi der Zukunft. Es ist die heutige – in diesem Beispiel fiktive – Realität von Mariangel und Gonzalo in der südamerikanischen Hauptstadt der Region Antioquia in Kolumbien. Mariangel weiß um das Risiko ihrer Schwangerschaft. Früher wäre diese Situation lebensbedrohlich gewesen und für viele ihrer Familienmitglieder war sie auch tödlich. Doch nicht mehr für sie. El Metrocable – die Seil-Metro macht es möglich, dass Mariangel in direktester Linie die Hänge hinunterschweben und innerhalb kurzer Zeit das Krankenhaus noch rechtzeitig erreichen kann. Damals, vor dem Bau dieser Lebenslinie, hat die Fahrt mehr als eine Stunde gedauert. El Teleferico hat das Leben in ihrem “Barrio” – dem Quartier – grundlegend verändert. Ihre Zukunft liegt jetzt wirklich im Himmel. Herzlich willkommen zu Teil 2 der Serie “Urbane Seilbahnen – die Zukunft im Himmel”. Dabei beleuchten wir die von Europa fast unbemerkte Mobilitätsrevolution in vielen Millionenstädten Südamerikas. Dieses neue urbane und sehr klimafreundliche Verkehrsmittel wird auch bald unseren Alltag genauso sehr verändern, wie der von Mariangel – nicht auf dieselbe Weise, aber trotzdem disruptiv, denn auch in unseren Breitengraden gibt es kaum mehr eine größere Stadt, die nicht über mögliche Projekte spricht oder in der sich welche auf der Zielgeraden befinden.

Lebenslinie – Sicherheit an scheinbar seidenem Faden. Die Verbindung nach außen ist von unschätzbarem Wert für die Bewohner vom Stadtteil Santo Domingo in Medellín.

Medellín

Vor 20 Jahren galt Medellín als gefährlichste Stadt Kolumbiens. Es war die Hauptstadt der Drogenkartelle und diejenige mit der höchsten Mordrate des Landes. Dazu kamen Arbeitslosigkeit und damit auch Armut und Alkoholprobleme. Die Stadt liegt in einem Tal, was dazu führt, dass die soziale Flächenverteilung ähnlich wie in vielen anderen Städten des Kontinents ist. Die Reichen wohnen unten im Stadtzentrum, oft sogar in Wohntürmen, die ärmere Bevölkerung hingegen wohnt an den Hängen – je höher, je ärmer. Üblicherweise in rohen Backsteinbauten. Diese verfügen kaum oder gar nicht über eine funktionierende Frisch- und Abwasserversorgung. Manchmal fehlt sogar Strom. Sie sind wild und meistens illegal gewachsen. Das geschah auch oft wellenartig und in rasendem Tempo, wenn Menschen vom Lande als Bauern von Drogenkartellen vertrieben wurden. Daher gab es da eigentlich keine vernünftige Stadtplanung, die Schulen, Krankenhäuser, befestigte Straßen oder andere grundlegende Infrastruktur in der Nähe dieser Menschen vorgesehen hätte. Viele sind stolz, in ihren “Barrios” – spanisch für Stadtviertel – zu leben und es mit harter Arbeit zu eben einem dieser Backsteinhäuser gebracht zu haben. Da alles so chaotisch entstand, ist eines der größten Probleme der Verkehr. Weil es eben keine richtige Erschließung gibt, sind die Wege extrem lang und mühsam. Zwar wären die Entfernungen in Luftlinie kurz, aber durch Gassen, verstopfte Sträßchen und im Zickzack-Kurs werden schon alltägliche Besorgungen zur Weltreise. Damit ist es nicht übertrieben, dass manche bis ins Erwachsenenalter kaum oder gar nie aus ihrer näheren Nachbarschaft herauskommen. Was drastische Folgen hat. In den Barrios herrschen Clans und es gibt kaum Polizei oder andere Behördenpräsenz. Eine Art Anarchie bestimmt die Lebensläufe, oft mit Kriminalität, Suchtproblemen und frühem Tod. In den Achtzigern baute die Stadt unten im Tal entlang des Flusses eine einzige aufgeständerte Metrolinie. Diese verband die wohlhabenderen Viertel mit dem Stadtzentrum. Den Barrios an den Hängen brachte sie allerdings fast nichts. Und dann kam das Jahr 2004. Die Stadt beschloss ein ungewöhnliches Experiment, welches das Leben in vielen Städten und für Hunderttausende Menschen für immer verändern sollte.

Metrocable in Medellín. Im Hintergrund die erste Linie und die Station Santo Domingo. Im Vordergrund die neueste Linie mit Gondeln für mittlerweile 12 Personen pro Kabine.

Die Ankunft

In diesem Jahr nämlich installierte die Stadt ein völlig untypisches Verkehrsmittel. Etwas, was sich keiner vorher vorstellen konnte oder je gesehen hatte. Die Idee, die Metrobahnhöfe im Tal mit den umliegenden Hügeln zu verbinden, um den Menschen Anschluss und damit Perspektiven zu bieten, war geboren. Mit dem französischen Skiliftkonzern Poma wurde eine Seilbahn im mehreren Sektionen, das heißt mit Zwischenstationen, erstellt. Zu Beginn herrschte große Skepsis. Ist es gefährlich? Kann man in fremde Schlafzimmer schauen? Zerstörte es das soziale Gefüge? Für die Stationen musste auch erst Platz geschaffen werden und einzelne Häuser weichen. Die Stützen benötigen hingegen nur wenige Quadratmeter für ihr Fundament. Der Vorteil an Seilbahnen ist, dass sie im Vergleich zu anderen Verkehrsprojekten extrem schnell gebaut werden können. Innerhalb von Monaten. Und dass sie unschlagbar günstig sind. Denn eine Tram oder gar eine Metro wäre unbezahlbar gewesen. Sie hätte unterirdisch und steil den Berg hinauf geführt werden müssen. Auch gab es keine breiten Straßenzüge, wo man ein flächendeckendes Schnellbussystem wie in der Hauptstadt Bogota hätte installieren können. Das dortige Transmilenio-System wurde ebenfalls ein kontinentales Vorbild für günstigen Massentransport. Aber zurück zur Seilbahn. Es handelte sich um ein Gondelbahnsystem mit Achtergondeln, so wie man es hier bei uns aus Skigebieten kennt. Die Talstation wurde direkt über den Bahnsteigen einer Metrostation errichtet. Damit war der Anschluss an die restliche Stadt sichergestellt. Bestechend waren auch die günstigen Betriebskosten, das wenige notwendige Personal, die Lautlosigkeit, keine Abgase, keine fossilen Brennstoffe, die dritte Verkehrsebene in der Luft, die jahrzehntelang erprobte Technologie und die generelle Umweltfreundlichkeit.

Neueste Linie in Medellín. Moderne Architektur, großzügige Stationen mit Kunst, sozialen Angeboten und Geschäften bringen modernen und raschen öffentlichen Nahverkehr in die vorher verelendeten Stadtviertel. Bequem, leise und ohne Fahrplan steigt man jederzeit ein und hat in wenigen Minuten Anschluss an Gesundheit, Bildung, Verwaltung oder Arbeitsstellen. Ein vorher undenkbarer Komfort ist günstig, klimafreundlich und mit minimalem Platzbedarf zu einem sozialen Entwicklungs- bzw. Revolutionsfaktor geworden. Wie im Werbevideo des französischen Herstellers Poma (gehört heute zur italienischen HTI-Gruppe) zu sehen, wirbt das betreibende Nahverkehrsunternehmen mit dem einfachen Claim “Calidad de vida” – Lebensqualität.

Die Wirkung

Was als waghalsige Idee galt und viel Mut erforderte, stellte sich als Gamechanger heraus. “El Metrocable” stellte alle Erwartungen in den Schatten. Es ist kaum vermittelbar wie unglaublich stark sich das Leben für alle in Santo Domingo veränderte. Nichts war und blieb mehr wie zuvor. Die Stationen waren als strategische Anker im Stadtviertel von der Stadtverwaltung geplant worden. Da sie die einzigen größeren Strukturen waren, wurde dies auch gleich genutzt, um dort soziale Dienstleistungen unterzubringen. Da gibt es Ärztezentren, Bibliotheken, Fitnessstudios, Internetcafés oder Nachbarschaftstreffs. Rund um die Stationen siedelten sich rasend schnell Läden, Restaurants und Geschäfte an. Plötzlich gab es Arbeit. Die Bewohner konnten jetzt ihr Barrio innerhalb von Minuten verlassen und zur Metro gelangen. Die Welt war nun in Griffweite. Der Weg ins Krankenhaus, zur Universität, Schulen, anderen Stadtvierteln, Verwaltung – ja der ganzen Stadt – war plötzlich um Dimensionen kürzer. Kein langer Fußmarsch bis zum nächsten Sammeltaxi, welches im Schleichtempo sich durch die Unordnung quälte. Kein holprigen, stickigen und gefährlichen Abenteuerfahrten mehr. Nur noch ein ruhiges Schweben mit fantastischer Aussicht. Die Wirkung ging aber noch viel weiter. In den 16 Jahren, seit es diese erste Bahn dort gibt, ist die Mordrate drastisch gesunken, das Bildungsniveau gestiegen und nicht zuletzt die Kindersterblichkeit stark reduziert worden. Das hat auch mit Fällen wie Mariangel zu tun. Bei Komplikationen gibt es jetzt einen schnellen Weg aus der vormaligen Drogenhölle. Heute gibt es in Medellín 6 Linien mit rund 20 Stationen. Sie sind immer mit Tram, Schnellbus oder Metro verknüpft. Manche Bewohner, die noch vor der Seilbahn im Viertel aufgewachsen sind, berichten, dass die Hälfte ihrer Schuldkameraden es “nicht geschafft hätten”, also schon als Jugendlichen ermordet wurden oder an Sucht starben. Manche ihrer Kinder würde jetzt sogar studieren und es sei Leben und wirtschaftlicher Aufschwung zu ihnen gekommen. Der Erfolg und die Veränderungen sind dramatisch und lösten nach einem ersten Lächeln über die “Burbujas” in ganz Südamerika einen bis heute anhaltenden Hype aus. Das mit Abstand ambitionierteste Projekt entstand aber in La Paz.

Die Stadt La Paz erreichte das erste integrierte öffentliche Verkehrsnetz mit urbanen Seilbahnen als Hauptlastträger. Das Netz hat mittlerweile mehr als 30 Stationen und ist rund 27 Kilometer lang. Hier im Zentrum durch Straßenschluchten…
…und auch in luftiger Höhe weit über den Häusern. Die Masten sind vielfach so hoch, dass man die Seilbahn als Bewohner direkt darunter weder hören noch sehen kann.

Der Hype – La Paz

Der schnelle, günstige und relativ einfache Bau von urbanen Seilbahnen ist nicht nur gesellschaftlich und wegen der großen sozialen Verbesserungen für die Bewohner von abgehängten Stadtvierteln interessant. Nein, auch für Politiker. Für viele Städte war vorher öffentlich organisierter Massentransport unbezahlbar. Zudem dauerte der Bau lange – zu lange für die meisten Legislaturperioden. Wer also ein Projekt initiierte, brachte den Menschen erstmal Lärm, Baustellen und oft sogar Vertreibung. Die Früchte konnten erst viel später in der Zukunft geerntet werden. Mit urbanen Seilbahnen ist das anders. Das hat auch Evo Morales begriffen, der ehemalige Präsident von Bolivien. Die dortige Hauptstadt La Paz liegt in extremer Höhe in den Bergen. Auch hier befindet sich das Stadtzentrum im Tal und die ärmeren Menschen wohnen in El Alto, einem Hochplateau rund um den Flughafen. Der sozialistisch überzeugte Morales gab sich als Anwalt der ärmeren Bevölkerung und hielt Neoliberalismus für eine schädliche Erfindung der Weltbank. Doch von Amtszeit zu Amtszeit wurden seine Umfragewerte schlechter, er galt manchen als Verräter der indigenen Bevölkerung und verstrickte sich auch in Verschwendungsskandale. Evo Morales kam daher der Erfolg der Seilbahnen in Medellín gerade recht. Er kopierte die Idee, passte sie doch perfekt in die bergige Topografie von La Paz.

Da es aber hier keine anderen größeren Verkehrsmittel gab, adaptierte man das Modell hin zu einem kompletten Netz nur aus Seilbahnen. Quasi einer Metro in der Luft. Mit drei Pilotstrecken startete das System “Mi Teleferico” und verband das Tal mit El Alto. Der Erfolg war überragend. Günstig, schnell und zuverlässig pendelten Menschen wie Maria aus dem ersten Teil dieser Serie nun zur Arbeit. Schnell bildeten sich lange Warteschlangen zur Hauptverkehrszeit. Das Netz wurde atemberaubend schnell und innerhalb weniger Jahre auf 11 Linien mit über 30 Stationen ausgebaut. Über Abhänge, unter Brücken, durch Schluchten hindurch und an Hochhäusern vorbei, schwebt inzwischen ganz La Paz zu Hunderttausenden durch die eigene Stadt. Evo Morales lies sogar Sticker mit seinem Konterfei auf die Türen der Kabinen kleben. Zum Zug kam hier exklusiv bei allen Linien der österreichische Hersteller Doppelmayr, Konkurrent der französischen Firma Poma. Doch Morales konnte sich nicht halten, seine Bewerbung zur vierten Amtszeit endete in einer abenteuerlichen Flucht ins mexikanische Exil. Die Seilbahnen blieben jedoch ein großer Erfolg. Das größte urbane Gondelbahnnetzwerk der Welt begann ab jetzt auch in Europa und Großstädten wie Mexico City Ambitionen zu wecken. La Paz lieferte der Beweis, dass mit dieser Technologie noch viel mehr möglich war, als man bisher angenommen hatte. Mit La Paz machte sie auch nochmal einen Sprung nach vorne. Die Hersteller entwickelten die Systeme so weiter, dass in den wenigen Nachtstunden der gesamte Unterhalt besorgt werden konnte und die Bahnen fast rund um die Uhr an 365 Tagen des Jahres zuverlässig funktionierten. Bisher waren diese Anforderungen von Skigebieten nicht gestellt worden, dort bliebt in der Nebensaison und im Sommer genug Zeit für Reparaturen.

Der Netzplan von La Paz. Das System erschließt zusammenhängend fast die ganze Hauptstadt.

Die andere Seite der Medaille

Fairerweise muss man aber auch beleuchten, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. An manchen Orten brachten die Seilbahnen nicht nur Freude, Erleichterung oder sozialen Frieden. In Brasilien, genauer in Rio de Janeiro, wurde eiligst zu den Olympischen Sommerspielen eine solche Bahn errichtet, denn der Stadt fehlte es vor allem an einem funktionierenden Nahverkehr. Die schicken neuen Metros, welche für die Spiele gebaut wurden, führten wie so oft nur durch wohlhabende Gebiete. Als Ausgleich und Entwicklungsvorzeigeprojekt erschloss man einige Favelas auf den Hügeln mit einer Gondelbahn. Hier führte diese aber atypisch und spektakulär sichtbar von Hügelspitze zu Hügelspitze. Denn ganz oben war es am einfachsten Platz zu schaffen und Menschen für die Bahnhöfe zu vertreiben. Doch schon kurz nach den Sommerspielen und unter dem ultrarechten Bolsonaro wurde der Betrieb eingestellt. Die nagelneue Bahn gammelte schon bald vergessen vor sich hin: staubige Kabinen mit eingeschlagenen Fenstern, verrammelte Eingänge – manche Stationen wurden sogar von der Polizei als Schießtürme genutzt, um von dort gegen den wieder ausgebrochenen Drogenkrieg zu kämpfen. Die Bahn hat zuvor wie in Medellín rund um ihre Stationen einen wirtschaftlichen Aufschwung in der lokalen Mikroökonomie gebracht. Die politisch motivierte Betriebseinstellung hatte für die betroffenen Bewohner deswegen harte Konsequenzen. Nun wird die Bahn, nach erneutem Politikwechsel, vom Hersteller überholt und bald wieder in Betrieb gesetzt.

In Rio de Janeiro überfliegt die Seilbahn riesige, zuvor unerschlossene Gebiete über mehrere Stationen, welche zwischen 500 Metern und mehr als einem Kilometer auseinanderliegen. Sie verbindet dabei die Metro mit weit abgelegenen Stadtvierteln. Nach einer politisch motivierten Betriebseinstellung nimmt sie nun bald wieder den Betrieb auf.

Gerade sitz Dani neben mir. Ich bin geschockt nach dem Video, dass er mir gerade auf seinem Handy gezeigt hat. Er ist in Quito, der Hauptstadt von Ecuador, aufgewachsen. Auch dort wollten sich Politiker der Seilbahn bedienen. Schon länger gab es eine Touristenbahn, die auf den Hausberg führte, so wie in vielen Städten rund um die Welt. Die Bürger kannten also schon Seilbahnen. Doch die konservativen Politiker machten hier beim Versuch eine Seilbahn als Nahverkehrslinie zu etablieren alle Fehler, die man nur machen kann. Sie bezogen vorher die betroffene Bevölkerung nicht mit ein. Sie beschlossen den Bau einfach über deren Köpfe hinweg, Standorte für die Stützen wurden nicht mit Ersatzflächen entschädigt, wie in anderen Städten, sondern die Besitzer einfach enteignet. Die Menschen wollten sich das nicht gefallen lassen. Eigentlich seien sie ja gar nicht gegen die Bahn, sagt mir Dani, aber doch nicht so und unter diesen Umständen! Sein Video zeigt, wie die Polizei gnadenlos und blutig die demonstrierende Menge niederknüppelt. Ohne Bürgerbeteiligung und mit Gewalt sind Verkehrsprojekte zum Scheitern verurteilt. Genau wie die neue Metro in Quito. Diese wurde von der Weltbank mitfinanziert und die Metro von Madrid tritt als Planer auf. Die Linie führt wie in Medellín schnurgerade durchs Tal, ergänzende Seilbahnen wären nun sehr sinnvoll. Doch das Projekt geriet ins Stocken, gebeutelt von Korruptionsvorfällen und Missmanagement. Die Madrider Metro wurde darauf wegen Betruges verklagt und musste sich aus dem Projekt zurückziehen. Hätten sich die Stadtväter besser informiert, dann wäre ihnen aufgefallen, dass es anderen Städten in der lateinischen Welt genauso ergangen ist. Kein Wunder sind die Bürger nicht gut auf europäische Technologie und Investitionen zu sprechen.

Tatsächlich nehmen diese Aktivitäten aber zu. Bürgermeister lassen sich gerne neue Projekte fremdfinanzieren, damit sie mit schicken Gondeln oder U-Bahnen glänzen können. Die Seilbahnhersteller wiederum bieten Leasingverträge an und verdienen damit kräftig an der Projektfinanzierung mit. Der Weltmarktführer fiel in Venezuela ziemlich grausam auf die Nase. Das global betrachtet eher kleine Unternehmen aus dem österreichischen Vorarlberg baute in Bolivien die höchste Seilbahn der Welt – eine Ersatzbahn für eine schon ältere Luftseilbahnkette auf eine extreme Höhe von 4675 Meter. Das reine Tourismusprojekt wurde immer teurer und die Kosten verdoppelten sich fast von 53 auf über 100 Millionen Euro. Auf 13 davon blieb die Seilbahnfirma sitzen, als der Staat in den Wirren der jüngeren Zeit pleite ging. Ein urbanes Gondelprojekt in der Hauptstadt Caracas, welches sich zu diesem Zeitpunkt schon im Bau befand, konnte vom Unternehmen gerade noch rechtzeitig gestoppt werden, sodass nicht allzu großer Schaden entstand. Der besagte Weltmarktführer wirbt übrigens damit, Teil der “World Urban Campaign” der UNO zu sein. Das Programm bildet Stadtplaner gerade auch aus ärmeren Ländern darin aus, wie sie ihre Städte sozialer, smarter und moderner gestalten können – und da gehört das neue Verkehrsmittel Seilbahn mit dazu. Natürlich ist das nicht ganz uneigennützig. Seilbahnhersteller sehen ihre Zukunft vor allem in urbanem Gebiet. Schlicht, weil der Markt in Skigebieten konsolidiert und absehbar unter der Klimakatastrophe arg leiden wird. Sie sind also gezwungen, aggressiv in neue Geschäftsfelder vorzustoßen. Dass man da durch eigene Beteiligung versuchte, die Nachfrage zu stimulieren, gerade bei den so wichtigen Pilotprojekten, ist verständlich. Man muss allerdings auch kritisch sehen, dass für das Nischenprodukt von Seilbahnen nach einer langen Konsolidierungsphase nur noch ein Oligopol aus eigentlich zwei großen Herstellergruppen zurückgeblieben ist, auf welches nun eine goldene Epoche wartet. Doch dazu mehr in den nächsten Teilen.

Video des zweiten großen Herstellers Doppelmayr. Die urbanen Gondelbahnen überwinden jedes noch so komplizierte Hindernis und beschleunigen den Alltag der Stadtbewohner enorm. Atemberaubend, sauber, klimafreundlich. Auf dem Titelbild sieht man die wichtige Station Tiquira, wo Gondelbahnen aus vier Himmelsrichtungen auf mehreren Ebenen zusammentreffen.

Fazit

Gondelbahnen als günstige und flexible Massenverkehrsmittel bieten sich besonders in den hügeligen und unstrukturierten Städten Südamerikas geradezu an. Das Experiment vor 16 Jahren in Medellín revolutionierte das Leben der Bewohner in den vorher verarmten und abgehängten Stadtvierteln vieler Städte. Seilbahnen sind zu einem Instrument der Entwicklung und Sozialpolitik geworden. Gefördert von der UN, protegiert von den Seilbahnherstellern und plötzlich heiß begehrt von den extrem verkehrsgeplagten Großstadtmolochen des Kontinents, kam es zu einem bis heute anhaltenden Boom rund um urbane Seilbahnen. Städte wie Mexico City gehen heute etwas schlauer vor und vergeben den Bau der Seilbahnlinien an unterschiedliche Hersteller. Doch ein konsolidierter Nischenmarkt lässt ihnen nicht besonders viel Auswahl. Da aber urbane Seilbahnen viel günstiger als andere Massenverkehrsmittel sind, sparen sich trotzdem viele Städte eine Menge Geld und können so vielen Menschen überhaupt einen Zugang buchstäblich zur restlichen Welt bieten. Oft ergänzen sie bestehende Metronetze, manchmal ersetzen sie diese sogar. Eine enorme Verbesserung der Lebensqualität macht die Gondeln sehr beliebt, aber nur, wenn sie mit und nicht gegen die Bürger geplant und gebaut werden. Nachdem die lateinischsprachige Welt quasi als Reallabor die Vorteile der luftigen Alternative zu Tram, Bus oder gar Metro aufgezeigt hat, bricht nun in immer mehr Ländern rund um den Globus, von französischen Überseeinseln bis zu amerikanischen und europäischen Metropolen, gerade ein veritables Seilbahnfieber aus. Und genau damit befassen wir uns in Teil 3. Wie bringt man Menschen in der nördlichen Hemisphäre auf den Geschmack, sich per Seilbahn in der Stadt fortzubewegen, was sind die kulturellen und politischen Hürden und welche aktuell enormen Technologiesprünge im Seilbahnbau könnten auch bei uns den Nahverkehr klimafreundlich revolutionieren? Bleibt dran, es geht spannend weiter!

Medien-Tipp: 5-minütige Doku vom BR über das Seilbahnnetz in La Paz.

Magst du den Klimablog unterstützen?
Dann teile diesen Beitrag auf Mastodon, Twitter oder
dem sozialen Netzwerk deiner Wahl. Danke!

Am Klimablog dranbleiben? Jetzt folgen!




Zurück zur Startseite