Wo ein Wille ist, muss der Weg schön sein – Paris wird grün!

Die Transformation geht weit über das Pflanzen von Bäumen hinaus. Verkehr, Platz, CO2-Ausstoß - alles wird revolutioniert. Die Stadt der Klmakonferenz 2015 hat Monumentales vor. Ist Paris ein Vorbild für uns alle? Was passiert und wann?

So soll es einst auf den Champs Élysées aussehen, wenn alles fertig sein wird.

Die Champs Élysées sind hässlich. Wo einst Prachtstraße und Militärparade den Nationalstolz ausfüllten, reihen sich heute Fastfoodketten für Touristen, Schlaglöcher und viel Autos nebeneinander. Das Herz von Paris ist krank. Paris ist krank. Die Stadt hat ganz eigene, besondere Probleme und findet nun ziemlich radikale Lösungen dafür. Die engagierte Bürgermeisterin Anne Hidalgo transformiert ihre Stadt Stück für Stück in eine bessere Zukunft. Nicht weil sie es nur will, sondern weil sie es muss. Die Hauptstadt Frankreichs ist extrem eng bebaut und bewohnt. 2 Millionen wohnen innerhalb des Stadtringes. Das sind fast doppelt so viel Menschen pro Quadratmeter, wie z.B. in Berlin. Die Vision einer besseren, gesünderen und innovativeren Stadt soll Paris in die klimaneutrale Zukunft retten. Ganz nach dem Motto “entweder man geht voran, oder man bleibt zurück”. Paris trägt dazu auch eine besondere Verantwortung als Vorbild für das zentralistische Frankreich und hat sich auch deswegen eine unglaublich ambitionierte grüne Transformation vorgenommen. Schauen wir uns die verschiedenen Säulen des Großprojektes an. Ein Stadtrundgang im sommerlichen Frühling 2022 – On y va!

Der geplante Dachpark auf dem Gare du Nord.

Was ist überhaupt Paris?

Es riecht nach Croissants und dem dazu obligatorischen Milchkaffee. Ein geschäftiges Rauschen, Plaudern, durchmischt mit dem eingängigen dab-da-dääröö-Gong der französischen Eisenbahn bildet die Geräuschkulisse. Wir befinden uns am meistfrequentierten Bahnhof Europas, dem Gare-du-Nord in Paris. Er ist einer der vielen Kopfbahnhöfe der Stadt, die es bis heute schwierig machen, von einem Landesteil in den anderen zu reisen, ohne die Hauptstadt per Metro durchqueren zu müssen. Vielleicht gerade aus dem Nachtzug gestiegen, oder mit einem der Hochgeschwindigkeitszüge aus Brüssel, London oder dem Süden Frankreichs angkeommen oder vielleicht auch emporgestiegen aus dem Bauch des Bahnhofes, wo die S-Bahn “RER” vom Flughafen her ihre Station hat, machen wir uns auf den Weg in die Stadt der Liebe. Eigentlich sind wir schon mittendrin in der, je nach Zählart, größten urbanen Region des Kontinents. Paris ist wichtig, aber zugleich nicht in den Rankings der größten Städte vertreten. Wie das? Um den heutigen Spaziergang in die Zukunft von Paris zu verstehen, müssen wir die Vergangenheit nur ganz kurz streifen. Nein, kein Geschichtsausflug – aber es ist gut zu wissen, dass das kulturelle, finanzielle und politische Machtzentrum des Landes verwaltungstechnisch eigentlich sehr klein ist. Die Stadtgemeinde Paris ist die dichtestbesiedelste Stadt Europas, hat aber viel weniger Einwohner als anderswo in der Kernverwaltungszone – z.B. in Berlin, welches umliegende Gebiete vor ziemlich genau 100 Jahren eingemeindete. Trotzdem ist die urbane Stadt Paris eine der größten, wenn nicht die größte Europas. Denn die Stadt Paris bildet mit den umliegenden und direkt angrenzenden berühmt-berüchtigten Banlieue-Vorstädten zusammen die Megastadt und Verwaltungsregion Ile-de-France mit mehr als 12 Millionen Einwohnern. Wenn wir also über Paris reden, dann ist das aus dem hiesigen Blickwinkel die ganze Stadtregion, aber Anne Hidalgo ist nur die Bürgermeisterin der innerhalb der Ringautobahn gelegenen Kernstadt. Warum legen wir hier am Gare du Nord los? Weil dieser gerade renoviert und ausgebaut wird. Auf dem riesigen Komplex soll ein großzügiger Dachgarten, ja Park angelegt werden – ähnlich dem Vorbild auf dem Salesforce-Center in San Francisco. Jede Chance für mehr Grün will Paris in Zukunft nutzen. Der Gare du Nord bietet sich hier als Prestigeobjekt geradezu an. Er ist aber nur ein relativ kleines Puzzleteil in einem ungleich größeren Plan.

Was vorher eine staugeplagte Schnellstraße an bester Lage war…
…ist zu einem urbanen Garten geworden. Jetzt soll noch mehr davon folgen.

Der Verkehr

Wir könnten jetzt zu Fuß losflanieren, aber in Paris geht es fast immer schneller mit der fantastischen Metro. Im Vergleich zu anderen Städten hat sie ein enorm dichtes Netz, die Züge sind kleiner und kürzer, dafür sind die Haltestellenabstände nur halb so groß wie im Weltschnitt. Also fast jede 400 Meter befindet sich eine Station. Die Tunnel sind die Pulsadern, die das moderne Paris überhaupt möglich gemacht haben. Für Erstbesucher ein absolutes Wunderwerk. Die schiere und unglaubliche Menge an Menschen, die die Metro in der viel dichter als andere Städte besiedelten Stadt bewältigen muss, ist absolut beeindruckend. Vielleicht fällt einem bald auf, dass manche Linien auf Gummireifen fahren. Schon in der Hälfte des letzten Jahrhunderts musste die RATP, die Betreibergesellschaft, Maßnahmen zur Kapazitätssteigerung ergreifen und hat dazu die Züge mit stickstoffgefüllten Lastwagenreifen ausgestattet. Damit können sie viel schneller beschleunigen und bremsen. Das führt zu einem engeren Takt und mehr Förderleistung. Aber auch zu viel Reibung, was viele der Tunnel stickig warm werden lässt. Und als Tourist sollte man tunlichst die Rush-hour meiden. Denn die ist atemberaubend, im wahrsten Sinne des Wortes. So extrem vollgestopfte Züge, die im ultraengen Minutentakt in die Stationen brausen, haben die wenigsten von uns schon je erlebt. Man wartet gut und gerne 3-5 Züge ab, bis man sich noch knapp hineinzwängen kann. Wenige Sekunden stoppt der Zug nur und kaum ist er weg, kommt schon der nächste. Der schlichte Wahnsinn. Man erkennt, eines der schlimmsten Probleme der Stadt ist der Verkehr. Geschuldet durch die Dichte und die radial zentrale Ausrichtung von Arbeitsplätzen bis Verkehrssystemen ist der Grund dafür. Alle wollen ins Zentrum, zur gleichen Zeit.

Während die Metro nur die Innenstadt vernetzt, schließt die Schnellbahn RER die auch weit entfernten Agglomerationen seit den Siebzigern an die Stadt an. Aber auch hier extreme Dimensionen: Die zentrale U- und S-Bahnstation Châtelet-Les Halles, aus deren Eingeweide wir nun gerade emporsteigen, ist einer der größten unterirdischen Bahnhöfe der Welt und auch einer der meistfrequentierten. Manche Metrolinien halten innerhalb des Komplexes gleich zweimal an unterschiedlichen Stationen – im selben Bahnhof – so groß ist das Monstrum. Kilometerlange Rollsteige verbinden die unglaublich vielen Röhren, Stationen, Bahnsteige und Linien miteinander. Jedes Jahr wächst das Fahrgastaufkommen der Metro um satte 3%. Dem kann nur mit Technologie oder Neubauten begegnet werden. Manchmal sogar mit beidem: die Météor genannte Linie 14 war nach langem Stillstand eine komplett neu gebaute Linie, die weltweit das erste Mal komplett vollautomatisch ohne Fahrer verkehrte. Diese Pariser Erfindung ist inzwischen rund um den Globus zu finden. Dieses System wurde dann, auch weltweit das erste Mal, auf der meistbelasteten Linie 1, in eine schon bestehende Linie eingebaut. Ohne Unterbruch, während laufendem Betrieb! Ingenieure von U-Bahn-Betrieben aus aller Welt kommen nach Paris, um diese technische Leistung zu studieren. Diese Entwicklungen sind jetzt der Schlüssel zur Zukunft der Metro und dem Verkehr in Paris. Mehr dazu gleich. Auch der Autoverkehr ist jenseits von irdisch Ertragbarem. Der Périphérique, die Ringautobahn um die Stadt, ist eine der vielleicht gefährlichsten und anspruchsvollsten Stadtautobahnen der Welt. Stau herrscht immer, egal um welche Uhrzeit. Vespas und Motorräder zwängen sich anarchisch durch den langsam fließenden Verkehr. Wer es bis in die Stadt hinein schafft, der muss lange einen Parkplatz suchen oder gar darum kämpfen. Und darf nur maximal 6 Stunden darauf stehen bleiben. Also ganz bewusst keinen vollen Arbeitstag. Weil diese auch noch rar sind, gibt es ein quasi AirBnB für private Parkplätze, die man vorher im Netz buchen kann. Umweltplakette ist genauso selbstverständlich wie in Deutschland. Der Höllenverkehr über und unter der Erde ist also die Achillesferse von Paris. Aber auch das Beispiel, dass den Parisern schon früh gezeigt hat, dass Änderungen nicht nur notwendig sind, sondern auch die Welt für alle zum Besseren verändern können. Während wir langsam runter zur Seine spazieren, erzähle ich dir mehr von Anne.

Ein, zugegeben, polemisches Bild. Links die Banlieue-Architektur, in der Bildmitte der mörderische Phériphérique und rechts ein Friedhof.

Was bisher geschah

Anne Hidalgo ist die Tochter spanischer Einwanderer. Ihr Aufstieg liest sich etwas wie ein Märchen. Nach ihrer Ausbildung zur Sozialarbeiterin und später dem Studium von Sozialrecht sowie dem politischen Einstieg über den Feminismus hat sie sich brav in der lokalen Politik von Paris hochgearbeitet. Erstaunlich ist, dass sie der PS angehört und nicht den Grünen, die waren sogar ihr größter Konkurrent als es um ihr heutiges Amt als Bürgermeisterin ging, das sie seit 2014 bekleidet. Sie selber sagt, dass ihr sozialer Aufstieg und noch dazu als Frau, sie gestählt haben und ihr eine erstaunliche Durchsetzungsfähigkeit, aber schlussendlich auch ein großes Vertrauen und Sympathien der Bevölkerung brachten. Sie versprach von Anfang an Ökologie, und setzte vor allem mit Verkehrspolitik auch starke Erfolge um. Sie initiierte den Aus- und Wiederaufbau des Tramnetzes, welches heute die Stadt fast komplett umrundet. Eine sehr publikumswirksame Maßnahme war die Stilllegung der Autobahn der Seine entlang mitten in der Stadt und deren Umgestaltung in eine Flaniermeile. Auch das weltweit beachtete öffentliche Verleihsystem für Fahrräder “Vélib” ist einer ihrer Errungenschaften. Mit diesen Vorzeigeprojekten hat sie Vertrauen geschaffen und vielen die anfänglich große Angst vor Veränderungen genommen. Das bildet die Basis für eine noch viel größere Transformation, die jetzt Paris relativ radikal in eine viel grünere Zukunft führen soll.

Der Radverkehr explodiert – die grünen Räder gehören zum äußerst erfolgreichen Vélib-System.
Rue de Rivoli, 1. Juni 2022, früher Abend. Besser als nur gepinselte Schutzstreifen: geschützte Radwege mit Gegenverkehr, genug breit für Überholmöglichkeiten.

Stadtgrün

Spürst du den Vibe? Das hier direkt am Fluss war mal eine Autobahn mit vielen Ausfahrten, hier starb Prinzessin Diana im Tunnel unter einer Brücke hindurch, hier rasten tagtäglich zehntausende Autos entlang. Und jetzt ist einfach Ruhe, Menschen fahren Inline-Skates, Kinder lachen und Pärchen sitzen auf Stühlen am Ufer. Das so hinzubekommen, war eine gewaltige politische Leistung. Holen wir uns doch da drüben am Foodtruck noch eine Crêpe, aber wenn du Nutella für drauf wählst, dann gibst du dich gleich als Torist zu erkennen! Mein Tipp: Maronenschlagsahne oder Karamell mit bretonischer Salzbutter. Wenn du fertig geschlemmt hast und dir noch den Karamellbatzen vom Mundwinkel, ja genau da, wischst, dann gehen wir rüber zu den Champs Élysées. Hidalgos bisher medienwirksamstes Mammutprojekt. Dass die Pracht- und Repräsentiermeile an Glanz verloren hat, kommt eigentlich gelegen, denn dass man etwas tun muss, ist allen Beteiligten klar. Hidalgo steht aber für einen “Ganz- oder-gar-nicht-Stil”, zu mittige Kompromisse liegen ihr nicht. Natürlich regiert sie nicht allein, aber dieses Projekt liegt ihr besonders am Herzen. Denn es zeigt, wie schon die anderen Projekte, was möglich wäre, wenn man visionär denken wagt. Dass sie dabei gekonnt zwischen nationalen Gefühlen und lokaler Politik jongliert, ist schon fast ein Markenzeichen. Denn das Projekt war irgendwie auch Teil ihrer, schlussendlich für dieses Mal gescheiterten, Kandidatur zur Präsidentin der Grande Nation. Und vielleicht doch noch in Zukunft das Ticket dahin. Als nationales Schaufenster in einem zentralistischen Staat ist Paris der absolute Bezugspunkt. Was hier geht, macht auch in den Provinzstädten Schule. Wie zum Beispiel die automatischen Metros auch. Ein paar Schuhnummern kleiner wurden die dort fleißig kopiert. Jeder wollte wie Paris sein und forderte auch lautstark dieselben Gelder dafür ein. Wenn das auch mit der Anpassung an den Klimawandel klappt, dann ist sehr viel gewonnen – das weiß auch Anne Hidalgo. Aber nicht nur die Champs Élysées, sondern auch rund ums Hotel de Ville, den Eiffelturm und weiteren wichtigen Stellen im Zentrum soll es grün, verkehrsfrei und durch viele Bäume kühler werden. Vielleicht nicht ganz so strategisch geplant, aber immerhin so argumentiert, gelingt ihr auch tatsächlich sowas wie eine weltweite Vorreiterrolle. Geschickt hängte sie ihre Visionen an die Klimakonferenz und den historischen Vertrag von 2015 zur radikalen Reduktion von CO2. Auch andere Städte sehen, was sie vorhat bzw. bereits erreichte und orientieren sich mit ähnlichen Vorhaben an Paris. Wenn du verstehen willst, was die Bürgermeisterin tatsächlich plant, von welchen Größenordnungen wir hier wirklich reden und vor allem, warum das klappen könnte, dann komm mit zu einem fantastischen virtuellen Flug durch das neue, grüne Paris:

Wer nach diesem Video nicht sprachlos ist… Bei uns werden solche bahnbrechende Visionen für ein besseres Leben als Bullerbü verschrien. Das neue Paris wird eine markant lebenswertere Stadt sein. Eine Stadt der Zukunft.

Atemberaubend, nicht wahr? Ja, setzt dich ruhig etwas hin, da wird einem tatsächlich schwindlig von. Reden wir derweil über die Details. Auf lokaler Ebene als Bürgermeisterin sind ihr die in ihren Wohnungen eng gedrängten Bürger wohlgesinnt, nur 5 % empfinden die Champs Élysées für sich als lebenswerter Ort und meiden sie mehrheitlich. Wenn sie also für dessen Aufpeppen auch noch etwas mehr Umgestaltung an anderen Orten in Kauf nehmen müssen, dann ist das gar nicht so übel. Sie verspricht ihnen ein “Schaufenster der verkehrsberuhigten Stadt”. Also deutlich mehr, als nur eine Renovation. Eher eine angesichts der Klimakatastrophe dringend nötige Revolution. 400 Bäume sollen gepflanzt werden, jeder in einem eigenen Minigarten. Wo es schon schwieriger wird, ist beim von ihr vorgesehenen Abbau von Fahrspuren. Luxusgeschäfte fürchten genau wie in Berlin, dass die Klientel nicht mehr mit dem SUV vorfahren könnte. Dass Paris aber auch eines der meistbesuchten Tourismusziele der Welt ist und eine grüne Oase eher zum Shoppen einlädt als der ständige Verkehrslärm und Fastfoodketten, ist die andere Seite der Medaille, die ebenso Gewicht haben könnte. Druck haben jedenfalls alle, denn 2024 wird man im Rampenlicht der Welt stehen, dann, wenn die Olympischen Spiele in Paris stattfinden. Der gröbste Teil soll bis dahin fertig sein. Wieder ist ein Großprojekt geschickt an einen schwer angreifbaren Sachzwang geknüpft – typisch Hidalgo. Die Stadt soll ein grüner Neuanfang erleben, veritable Stadtwälder das Mikroklima beeinflussen und Grünanlagen, wie am Eiffelturm, miteinander verbinden, Brücken bepflanzt, Nachbarschaften autofrei werden. Diese Erneuerung soll sich auch wirtschaftlich niederschlagen, denn eine Stadtaufwertung und weltweite Vorreiterrolle sollen den Anspruch von Paris, eine Weltmetropole zu sein und zu bleiben, in Zukunft garantieren.

Grün, bewaldet, kühler – klimagerechter.

Auto raus, Rad rein

Jetzt magst du endlich zum Eiffelturm und den Champs de Mars – ja, wir kommen dran vorbei auf dem Weg hinaus in die Vorstadt. Aber wir leihen uns dafür ein Rad an der Station da drüben, ok? Denn Fahrradfahren ist in letzter Zeit hier unglaublich viel angenehmer geworden. Wie man am schnellsten viele Autos von der Straße und dann durch weniger Verkehr auch viele aus den Metrotunneln für kurze Strecken aufs Rad bekommt, das hat sich Anne in den Niederlanden abgeguckt. Dort funktioniert das auch gut in Großstädten – warum nicht auch in Paris? Aber ohne Regulierung geht es nicht: 260’000 Parkplätze sollen innerhalb des Périphérique wegfallen. Wer nicht parken kann, der kommt erst gar nicht rein. Der Platz der engen Stadtstraßen soll vor allem für die Bewohner derselben reserviert sein. Die Metro kann das nicht alleine auffangen, sondern wird ganz im Gegenteil im besten Fall zusätzlich entlastet. Das Radnetz ist schon weit fortgeschritten. Hauptadern werden immer mehr durch bevorzugte Führung von Radwegen, Radinfrastruktur und kompletten Straßenumgestaltungen inklusive deren Schließung für Autofahrer ergänzt.

Autofreie Umgestaltung von Stadtstraßen in Paris.

Und es wirkt, die Anzahl der Radfahrer steigt absolut rasant. Manch einer kommt nach Paris und reibt sich die Augen – ist ja plötzlich wie in Amsterdam hier! Zwar ist der Modalsplit fürs Fahrrad noch recht tief, hat sich aber in den letzten 10 Jahren für die Ile de France vervierfacht! Nicht immer perfekt, aber schnell, heißt die Devise. Den Menschen den Wechsel mit Beispielen zeigen, sie auf den Geschmack bringen. Eine neue Stadtkultur anregen. Die Bewohner erobern sich gefühlt ihre Stadt wieder ein Stück weit zurück. Und damit lässt es sich wiederum weiter politisieren. Stetig Tropfen höhlt den Stein. Hidalgo hat Tempo 30 flächendeckend durchgesetzt. Denn jetzt wo alle sehen, dass dies auch ihr Leben auf dem Fahrrad vereinfachen würde, ist es leichter radikalere Schritte zu gehen. Und Hidalgo kämpft verbissen dafür – denn ihr weht ein rauer Wind der Konservativen entgegen. 2017 kassierte das Verwaltungsgericht kurzfristig die Sperrung der Seine-Schnellstrasse, sie hat es trotzdem geschafft und heute flaniert es sich formidable darauf. Und die Wirkung liest sich langsam auch in den leider immer sehr zeitverzögerten Statistiken. Der Autoverkehr nimmt ab, dafür der des ÖPVN zu. Im Vergleich zum Referenzjahr 2001 gibt es rund 25 % weniger Fahrten mit dem Auto innerhalb des urbanen Paris und 90’000 weniger Autos im Fuhrpark der Pariser Bürger. Das Leben ohne Auto kommt in Mode. Was auffällt, ist auch, dass viel mehr in der Innenstadt Wege jetzt zu Fuß zurücklegen, wo früher die Metro benutzt wurde. Ergo: je weniger Autos, desto mehr Platz und Qualität für andere Verkehrsarten. Das wiederum wirkt sich auf die Gesundheit der Bewohner aus. Eine Kettenreaktion, bei der eigentlich alle nur gewinnen können. (Zahlen: Mobilitätsstudie des L’Atelier parisien d’urbanisme “Apur”, 2021)

Nein, das ist nicht der Metroplan, sondern eine Karte der geplanten Radschnellwege in Paris.

Grand Paris Express

Wie vorhin gelernt, ist Paris selber nur ein kleiner Teil der viel größeren Metropolregion Ile de France. Und die durch Bandenkriminalität und Perspektivlosigkeit bekannten Vorstädte bilden einen erheblichen Teil von Groß-Paris. Hidalgo kann ohne die Zusammenarbeit mit dem Rest der Ile de France ihre ambitionierten Ziele kaum erreichen. Gerade was den Verkehr anbetrifft. Schon lange sind die Bewohner der Vorstädte gerade abgehängter als anderswo. Die Vorortbahn fährt durch die Banlieue weit hinaus in bessere Gegenden, innerhalb der Stadt und durch die Banlieue sind sie aber relativ gebündelt auf wenigen Stränge chronisch überlastet. Querverbindungen gibt es kaum. Die neue Tram fährt am Stadtrand zu Paris lang und bringt vor allem dort was. Überhaupt herauszukommen aus den Banlieue, ist gerade für viele Jugendliche nicht nur sozial schwierig, sondern buchstäblich auch physisch. Da der Verkehrsverbund, die Tickets dafür und damit das Gesamtangebot zusammen mit der Il de France entsteht, übernimmt die Region eine wichtige Rolle in der Verkehrsgestaltung auch für die Kernstadt Paris selber. Diese Zusammenarbeit hat Hidalgo geschickt verstärkt. Zum Beispiel, in dem das identitätsstiftende Design der Metrozüge im Neunzigerjahre-Grün aufgegeben wurde und nun alle Verkehrsmittel konsequent und kostenintensiv in der gesamten Region durch ein einheitliches ersetzt wird. Metro, S-Bahn, Bus – alles trägt inzwischen auffällig das Branding der Ile de France. Und unter diesem symbolisch neu gestärkten Dach entsteht ein unwahrscheinlich gewaltiges Projekt mit schier unfassbaren Dimensionen. Der Grand Paris Express. Eine Reihe von neuen Metrolinien. Aber im ganz, ganz großen Stil. Einmal rund um die ganze Stadt wird die Linie 15 führen, weit draußen in der Vorstadt – es soll all die benachteiligten Gebiete miteinander verbinden und damit auch verkehrstechnisch die Kernstadt entlasten. Denn bis jetzt musste man ins Zentrum fahren, um Freunde in einer anderen Banlieue zu besuchen.

Der Grand Paris Express – So sollen die Züge außen…
…und so innen aussehen.

Vier Linien fügen dem Metronetz astronomische 200 Kilometer neu hinzu – das ist quasi eine Verdoppelung! Das kostet auch astronomische 35 Milliarden Euro. Eine europäische, staatliche und regionale Investition in den Frieden in den von Gewalt geplagten Vorstädten, die Entwicklung von ganz Paris und ein monumentaler Schritt in Richtung Dekarbonisierung. Möglich wird das durch die erwähnte in Frankreich entwickelte automatische Technik für Metrozüge. Alle Linien sind fahrerlos, haben relativ große Stationsabstände von einem Kilometer und mehr und verkehren fast ausschließlich unterirdisch. Das bisher größte Bauprojekt Europas geht gerade in London in Betrieb, die Crossrail, eine Bahn, welche die Stadt wie in Paris bereits seit den Siebzigern schon durchquert. Jetzt löst der Grand Paris Express ab und bricht alle Rekorde. Sogar die, welche Madrid zuvor mit ihrem Ausbau ihrer Metro lange gehalten hat. Natürlich schafft dies Arbeitsplätze, Lebensqualität, Gesundheit und viele Vorteile mehr. Die Trennung von teurer Kernstadt und den teils sehr armen und heruntergekommen Gebiete darum herum beginnen Schritt für Schritt zu verwischen. Das entspannt wiederum die starke soziale Segregation und Gentrifizierung im Zentrum. Ans neue Netz werden auch die beiden Großflughäfen angeschlossen – mit der schon bekannten Linie 14 durch die Stadt. Für die Touristen geht es auch nach Versailles mit der neuen “Supermetro”. Atemberaubend ist das Tempo: bis 2027 nach Orly und die Linie 15 komplett rundherum bis 2030 fertig, sagen die Pläne.

Die geplanten Linien.
Rund um die Stationen des Grand Paris Express soll es tausende neue Bäume geben.

Das weniger Sichtbare

Im Zuge des Grand Paris Express sind viele andere Projekte in Gang gekommen, die Tram wird schneller und weiter aus Paris heraus verlängert, Metrolinien stoßen in die Il de France vor und dort, wo sich ein Weiterbau wegen geringerem Verkehrsaufkommens nicht lohnt, kommen ganz neu urbane Seilbahnen zum Einsatz. Ja, tatsächlich, Gondelbahnen von der Endstation der Metro über mehrere Stationen weiter hinaus in die vorher schlecht erreichbaren eigenständigen Städte rundherum. Entlang der neuen Verkehrswege sollen 170’000 Bäume gepflanzt werden und weitere 60’000 Parkplätze aufgehoben werden. Entlang des Autobahnringes ist ein 40 km langer, begrünter Gesundheitspfad vorgesehen. Wer kann schon in seiner Stadt einen Marathon im Kreis, ohne Unterbruch und dann noch durchs Grüne laufen? Auch auf der Ringautobahn soll es grüner werden – mit einem begrünten Mittelstreifen, weitere 20’000 Bäume kommen dafür dazu. Eine Fahrspur soll in Zukunft nur noch für Taxis und Fahrgemeinschaften reserviert sein. Ähnlich wie bei den Diamond-Lanes in den USA. Auch hier soll der Übergang geschickt versteckt passieren – denn ein reservierter Fahrstreifen für die Athleten und Funktionäre ist für die Olympischen Spiele sowieso vorgesehen. Innerhalb von Paris verfolgt Hidalgo derweil das ehrgeizige Projekt, dass die Stadt zur “Viertelsutundenstadt” werden soll. Ein Konzept, welches vorsieht, dass alles Lebensnotwendige innerhalb von 15 Minuten von der eigenen Wohnung entfernt sein soll. Einkaufsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung, Schulen und so weiter. Das ist eine Abkehr der neoliberalen Politik der grösstmöglichen Effizienz zuvor. Aber aus der Sicht von “Super-Anne” ist das auch eine Art Effizienz – nämlich für die Bürger und das Klima und die Reduktion des Verkehrs.

Ebenfalls durch Anne Hidalgo angeregt: ein 40 km langer Gesundheitspfad einmal komplett ums Zentrum. Vielleicht schon bis zu den Olympischen Spielen 2024 Realität.

Fazit

Auch müde? Wir haben gerade so viel gesehen und erlebt bei unsrem Ausflug nach Paris! Hat es dir gefallen? Kannst du dir die Zukunft von Paris nun besser vorstellen? Willst du das auch in deiner Stadt? Enchanté, Paris verte! Zugegeben, all diese Projekte sind radikal, extrem groß und extrem schnell – jedenfalls wenn man den jahrzehntelangen Stillstand bei diesen Themen zuvor betrachtet. Sie zeigen aber als Leuchtturm, in welche Zeit die Welt aufbricht, was möglich ist, wo es für uns alle hingehen könnte. Hidalgos Politik ist weder ohne Fehler – nach einer negativen Studie musste sie die Idee eines Gratis-ÖPNV aufgeben – noch ist sie frei von Schwierigkeiten und Getöse der Opposition. Doch die geschickte Verzahnung verschiedener politischer Ebenen und deren Interessen sowie das Abholen der Bürger bei ihren Bedürfnissen macht sie so erfolgreich. Nicht verbieten, sondern Alternativen bieten, die Lebensqualität verbessern ist der Schlüssel. Aber wenn Anne Hidalgo eines ist, dann ist es mutig und furchtlos. Sie hat nicht nur in Paris Einfluss – sie gestaltet die ganze Welt mit ihren Ideen ein Stückchen mit. Es braucht dringend mehr solche Menschen, wenn wir es mit dem Klima und den für die ganze Welt damals in Paris beschlossenen 1,5 Grad noch schaffen wollen. In Deutschland ist durch die polyzentrische Struktur und andere politische Landschaft wie auch Kultur vieles davon noch undenkbar und schon gar nicht mit den Mitteln von Hidalgo machbar. Aber die neue Gangart à la Habeck und Baerbock könnten ein Vorgeschmack sein. Frankreich hat genauso nationale Probleme, wie ebenfalls abgehängte rurale Gebiete mit schlechter Bahninfrastruktur und eine dort zunehmend unzufriedene Wählerschaft – wie man bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen deutlicher denn je geworden ist – aber es ist wenigstens aufgebrochen in eine Zukunft. Man kann nicht alles kopieren, jedoch von Paris selber und Anne Hidalgo viel lernen. Vor allem unermüdlichen und ansteckenden Opportunismus. Jetzt gönnen wir uns noch einen Pastis!

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