Was ist eigentlich diese Verkehrswende genau? Teil 1/2

"Irgendwie das mit den Radwegen und so." Alle reden darüber - doch jeder versteht etwas anderes darunter. Die einen haben Angst, dass man ihnen das Auto weg nimmt, die anderen denken an mehr ÖPNV. Doch die Verkehrswende ist viel mehr als das. Unser Leben wird sich für immer verändern.

Finale Planung für die Umgestaltung des Mierendorffplatzes in Berlin. Das ist sowieso notwendig, weil hier eine neue Tramstrecke gebaut wird. Weniger Fahrspuren, dafür mehr grün, Rad und ÖPNV.

Der Begriff ist gerade allgegenwärtig. Politiker in Talkshows werfen damit um sich, genervte Fahrradfahrer fragen, wann sie denn endlich kommt – aber was ist die Verkehrswende überhaupt? Der Verkehr ist ein wichtiger, aber zunehmend dysfunktionaler Teil unserer Gesellschaft und die Klimakatastrophe drängt immer mehr zu raschem Handeln, also müssen wir den Verkehr verändern. Woher kommt der Begriff, was ist bereits Konsens, was noch Zukunftsmusik und wie machen es andere Teile der Welt? Welche Player abgesehen von politischen Parteien stecken noch dahinter? Willkommen bei der vielleicht sichtbarsten Veränderung und Neuorganisation unseres Lebens im Zeitalter der akuten Klimakatastrophe.

Inhalt

Konkret schauen wir auf den wichtigsten Schauplatz, die Straße. Wir klären, was sonst noch dazu gehört, springen über den Stadt-Land-Graben, streifen die Sharing-Economy, fahren im Nahverkehr der Zukunft und bringen etwas Licht ins Dunkel bei Einflüssen und Machtverhältnisse rund um die Verkehrswende. Es geht hier heute um ein grobes Gesamtbild und ein paar ausgewählte Bereiche – die ganze Verkehrswende geht selbstverständlich tiefer und wird noch in vielen zukünftigen Beiträgen genauere Betrachtung finden. Versprochen. Auf geht’s:

Um was geht es?

Die Verkehrswende könnte man vielleicht als gesamtgesellschaftlicher Wendepunkt beschreiben, bei welchem viele Probleme auf einmal neu sortiert werden sollen. Klar geht es zentral um die Senkung von Emissionen und Rettung des Klimas, aber auch um Gesundheit, lebenswertere Städte und damit um nicht weniger als ein besseres Leben. Manche glauben, dass ein elektrifizierter Individualverkehr ja das Emissionsproblem löse, aber trotzdem braucht der Verkehr dann noch Ressourcen. Strom ist noch lange nicht klimaneutral und Feinstaub, Lärm, Unfälle, Falschparker und Stau bleiben riesige Probleme, die uns in den Städten mittlerweile regelrecht strangulieren. Darunter leidet auch die Wirtschaft. 2019, also vor der Pandemie, standen Deutsche 521’000 Stunden pro Jahr im Stau. Während der Pandemie halbierte sich der Wert, steigt nun aber wieder genauso an wie vorher. Historisch gab es schon öfters Verkehrswenden. Die Erfindung des Rades, der Eisenbahn und schlussendlich des Automobiles haben in kurzer Zeit das Leben von uns Menschen komplett auf den Kopf gestellt. Letzteres führte als großer Wandel der Nachkriegszeit und des Wirtschaftswunders fast schon fanatisch religiös zu einem ausschließlich autozentrierten Umbau des öffentlichen Raumes. Alles und jeder musste sich zwangsweise unterordnen. Mit schrecklichen Folgen. Manche haben seither nur Symptome bekämpft, indem sie die Menschen mittels U-Bahnen in Tunnels verlegten, Katalysatoren einführten und noch mehr Straßen bauten. Also wir. Andere, wie die Niederlande, haben da die Reißleine gezogen und sich einer neuen, menschlicheren Verkehrspolitik zugewandt. Diese haben jetzt schon einen gewaltigen Vorsprung.

Im Kern einer Super-Manzana in Barcelona. Die jeweils aus 9 Häuserblöcken bestehenden Viertel haben die Form eines Apfels – una manzana. Innerhalb dieser ist der Durchgangsverkehr ausgeschlossen. Der gewonnene Raum dient wieder als Spielplatz, Treffpunkt und Lebensraum für Menschen statt Autos. Die provisorische Gestaltung wird über die Zeit verstetigt.

Weniger Autos sind nur ein Ziel, aber dieser Punkt bestimmt irgendwie alle Debatten zentral. Verständlich, ist es doch des Deutschen liebstes Kind – oder eben gerade nicht mehr? Es geht darüber hinaus auch um Logistik, neue Verkehrstechnologien und die Neuaufteilung von Platz – und da wird das Auto eben zwangsweise zurückstecken müssen. Wir haben das Krebsgeschwür viel zu lange wuchern lassen. Als die Wirtschaft explodierte, tat es auch die Autoinfrastruktur, doch über mehrere Krisen und der daraus resultierenden Schuldenbremse altern die Bauwerke zunehmend und können nicht mehr mit dem weiter anhaltenden Verkehrswachstum mithalten. Viele von ihnen werden heute von viel mehr und viel schwereren Fahrzeugen befahren, als wofür sie ursprünglich ausgelegt waren. Sie einfach baugleich zu ersetzen, kann nicht das Ziel sein. Es sind jetzt viel eher Chancen, Fehler rückgängig zu machen. Dieser Trend ist weltweit zu beobachten. Zeit, also grundsätzlich anders zu denken. Der Platz in den Städten ist nicht unendlich und die Grenzen des Ertragbaren sind vielerorts überschritten. Lieferdienste, Radfahrer und Autofahrer kämpfen zunehmend aggressiv um ihr Revier. Die Verkehrswende ist nicht nur eine grüne Klimageschichte, sondern eine nicht gemachte Hausaufgabe, die jetzt wie die vermurkste Energiepolitik zwangsweise angegangen werden muss. Der Preis des gegenwärtigen Zustandes ist für die Wirtschaft, die Gesundheit und die Lebensqualität viel zu hoch geworden. Und bisher bezahlten ihn die Falschen.

Das Problem

Wir haben uns viel zu lange viel zu viel Ineffizienz geleistet und das einseitig für eigentlich relativ wenige Menschen. Klar, von Wirtschaftsverkehr profitieren wir alle, aber dieses Argument zieht nicht mehr, um jede Diskussion über die Verkehrsfrage im Keim zu ersticken. Auch Freizeitverkehr ist ein Wirtschaftsfaktor – aber sowohl zur Arbeit als auch ins Urlaubsvergnügen gibt es für fast alle Alternativen. Dass Städte voll gestellt sind mit privaten Blechkisten, die zu 95 % der Zeit unproduktiv einfach nur den Lebensraum versperren, oft gratis oder fast für umme, ist unfair und unhaltbar. Viele internationale Metropolen machen vor, wo Parkplätze mehr kosten und insgesamt weniger werden, da kaufen sich auch weniger Menschen ein Auto, was wiederum weniger Folgekosten für die Allgemeinheit bedeutet. Oft tritt sogar das Gegenteil ein. Wie zum Beispiel Barcelona mit seinen als “Super-Manzanas” bekannten autofreien Straßen in Wohnvierteln bewiesen hat, steigt der Umsatz in den angrenzenden Geschäften, nachdem der Durchgangsverkehr ausgesperrt wurde.

Das ungeplante soziale Experiment Lockdown hat uns zudem vorgeführt, was Pop-up-Radwege, Straßencafés und temporäre Fußgängerzonen für positive Einflüsse hatten. Und dies weltweit über alle Kulturen hinweg. Immer weniger Stadtbewohner besitzen ein Auto. Zum Beispiel haben rund 70 % der Haushalte in Berlin keines. Doch immer mehr Raum wird dem Auto gewidmet. Wo früher breite Straßen waren, auf welchen das Leben stattfand, spielen heute keine Kinder mehr, findet kein Handel mehr statt und stehen links wie rechts Autos, die schmale Gasse in der Mitte ist gefährlich geworden. Kinder gehen nicht mehr selber zur Schule, eingeschränkte Personen werden aus dem öffentlichen Leben verdrängt, alle anderen müssen mit den Folgen dieser einseitigen Politik leben. Sie bezahlen dies mitunter mit ihrer Gesundheit. Sie sind Opfer von Lärm, Feinstaub und Abgasen, genau wie Autofahrer durch weniger körperlicher Bewegung im Alltag, was mit als ein Faktor für die Epidemie von Wohlstandskrankheiten gelten darf. Was von der konservativen Politik als persönliche Freiheit verkauft wurde, hat diese für viele effektiv immer mehr eingeschränkt.

Während wir über Fahrradbügel sprechen, sind uns Länder wie die Niederlande um Jahrzehnte voraus. Das hier ist das größte Fahrradparkhaus der Welt am Hauptbahnhof in Utrecht. Fahrradinfrastruktur ist günstiger als jene für Autos.

Die Lösungen

Die Klimakatastrophe zwingt uns jetzt zur radikalen Änderung. Es ist traurig, dass alle Nachteile zuvor nicht dafür ausgereicht haben. Starke Lobbys und vielleicht auch das starke politische Gewicht der Generation Wirtschaftsboom haben das Auto einseitig protegiert. Jetzt, wo es nicht nur unangenehm wird, sondern existenziell, kommt Bewegung in die Sache. Grob lässt sich das in folgende Bereiche aufteilen:

Neuverteilung der Straße:

Mehr Platz für Menschen und das Rad und weniger für den fahrenden wie stehenden Autoverkehr. Dazu mehr Grün und mehr soziale Räume im Freien.

Verkehrsmittel:

Mehr öffentliche Verkehrsmittel, mehr Sharingangebote, eine neue Logistik für den Nahbereich. Elektrifizierung ja, aber nur mit einer drastischen Reduktion von exklusiv privat genutzten Fahrzeugen.

Neuorganisation des Zusammenlebens:

Nicht nur die Straße, sondern auch die Strukturen unseres Alltags müssen sich anpassen. Homeoffice führt zu weniger notwendigen Wegen, Kleinlogistik wie mein Einkauf oder Handwerker werden durch Lieferangebote und Lastenräder effizienter und klimafreundlicher.

Das sind nur Beispiele, grundsätzlich wird hier ein lange zementiertes Gefüge als Mikrokosmos komplett neu gedacht. Einfach, weil es nicht mehr aufzuschieben ist. Die Notoperation ist unausweichlich. Weil sich da fast alle einig sind, geht es jetzt doch vorwärts. Dazu gibt es ein paar zentrale Themen und Ideen, die wir kurz beleuchten:

Die 15-Minuten-Stadt

Ein Schlüssel könnte die 15-Minuten-Stadt sein. Dieses Konzept erlangte vor allem durch Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, viel Aufmerksamkeit. Wir haben unsere Städte und auch die Lebensformen auf dem Land so stark aufs Auto ausgerichtet, dass wir auf viele Wege angewiesen sind, weil die Dinge viel zu weit weg sind. Was wäre, wenn alle lebensnotwendigen Dinge wieder in einer Fußdistanz von maximal einer Viertelstunde erreichbar wären? Schulen, Läden, Ärzte, Behörden, soziale Treffpunkte, Sportangebote? Der Neoliberalismus hat immer mehr Bereiche der Daseinsvorsorge in Profitmaschinen verwandelt. Dazu wurden kleinteilige Strukturen zugunsten von großen, kosteneffizienten abgelöst – auf Koste der Qualität. Lebensqualität. Von Einkaufszentren bis zu Krankenhäusern. Das machte diese Dinge vermeintlich günstiger, aber führte zu mehr Verkehr und darum indirekt bei den Folgen davon zu viel höheren Kosten. Mehr Kleinteiligkeit kostet also erstmal, spart aber anderswo wieder ein.

Die Verkehrswende nimmt nicht, sie gibt. Ein besseres Leben für uns alle ist das Ziel. Das ist eine Grafik vom Künstler Jan Kamensky, der reale Stadtsituationen von heute in mögliche Utopien von morgen verwandelt. Wenn du mehr davon sehen willst, dann besuche seine Webseite.

Und auf dem Land?

Auf dem Land hatte die autozentrierte Entwicklung besonders negative Folgen. Da hier Kosten auf viel weniger Menschen verteilt werden konnten, hat der Markt einfach alles weg geregelt, was für die Menschen sinnvoll bis notwendig wäre. Wirtshäuser, Einkaufsläden, Apotheken, Nahverkehr – schlicht die gesamte Grundversorgung. Das ist jetzt alles weit weg. Aber gerade der Onlinehandel kann dazu beitragen, dass Waren wieder effizient gepoolt und nicht verteilt auf viel zu viele private Autos ihren Weg zu den Menschen finden. Automatische Dorfläden schaffen heute dank technischer Entwicklung wieder wirtschaftliche Alternativen zu den Discountern auf den Wiesen mit ihren riesigen Parkplätzen. Auch der Nahverkehr wird dank Technik besser werden. Deutschland ist ein Flächenstaat und weniger dicht besiedelt als die Schweiz oder die Niederlande und zudem relativ wenig urban im Vergleich. So hat die Landbevölkerung aber auch mehr Gewicht, um ihre Bedürfnisse an die Verkehrswende einzubringen. Dafür muss allerdings auch sie aus den Autos aussteigen. Wiedereröffnete Bahnstrecken, Radwege zwischen den Dörfern, on-demand Verkehrsangebote müssen dafür geschaffen werden. Das darf kosten und muss es uns wert sein. Auf dem Land wird es auch die Kultur sein, die sich genau wie in der Stadt verändern muss. Ein Beispiel: Landwirte, die täglich zu ihren Tieren auf der Weide schauen, taten dies früher zu Fuß, dann mit dem Fahrrad oder Moped, heute ausschließlich im Geländewagen – weil es nicht mehr anders ginge. Wirklich? Oder wäre bei vielen eher das eigene Ego angekratzt, wenn sie solche Wege im E-Flitzer oder gar E-(Cargo)Bike zurücklegen würden? Klar wurde viel Infrastruktur abgebaut, klar sind viele heute auf ein Auto angewiesen. Aber das war nicht immer so, historisch eigentlich nur für einen kurzen Zeitraum, und kann auch wieder anders werden. Besseres Internet bringt Arbeitsplätze zurück und bessere Zonenplanung führt zu weniger Zersiedelung. Beides zusammen bringt vielleicht wieder genug Dichte, um soziale Strukturen in Dörfern zu erhalten. Das Land ist nämlich in.

Landbus in Hof, Bayern. 460 Haltestellen, aber kein fester Fahrplan. Bestellt wird die Fahrt per App.

Sharing

Solange wie wir Erneuerbare nicht rasch ausbauen, wird Energie und damit Strom eine Mangelware bleiben (egal was uns der Verkehrsminister über Atomkraftwerke verzapft). Das wiederum macht Individualverkehr teuer – ein eigentlich guter Nebeneffekt der Krise. Und das macht Sharing interessant. Überhaupt ist Teilen und zusammen benutzen ein Schlüssel fürs Klima. So auch beim Verkehr. Und viel günstiger. Aus vielen Faktoren heraus wird sich das Konzept des exklusiv privat besessenen Autos langsam aus unserem Alltag verabschieden. Denn die hohen Kosten lohnen sich nicht mehr im Vergleich zu den Alternativen. Autos werden für gewisse Zeiträume abonniert oder spontan ausgeliehen und sind somit plötzlich viel produktiver, denn sie werde ein großer Teil ihrer Zeit nicht herumstehen, sondern unterwegs sein. Das braucht weniger Autos, lastet diese besser aus und führt zu mehr Platz, auch auf der Straße. Das muss übrigens nicht schlecht für die Autoindustrie sein. Ihr bisheriges Konzept, möglichst viele, möglichst billig produzierte und nur begrenzt haltbare Fahrzeuge an ebenfalls möglichst viele Verbraucher zu verkaufen, wird sich verändern. Ganz einfach, weil es nie nachhaltig war und immer weniger wird. Geld wird mit mehr Haltbarkeit in Form von Qualität (E-Autos halten sowieso länger), Softwareupdates, Zusatzfunktionen wie autonomem Fahren und dem Verleih bzw. eben Sharing verdient werden. Die meisten Hersteller experimentieren darum bereits mit Leihfahrezugen, Sammeltaxis und speziell die deutschen Autobauer verabschieden sich gerade vom Billigsegment (zwar aus andern Gründen, aber das Ziel erfüllen sie trotzdem damit).

Fazit

Grob haben wir nun den Rahmen gesetzt und die Problemzonen eingegrenzt. Die Verkehrswende ist nicht nur eine simple Antriebswende. Sie verändert unser Zusammenleben und unseren Alltag viel umfassender. Es wird mehr Verkehrsmittel geben und diese werden mehr Platz bekommen, vor allem das private Auto wird denselben hergeben müssen. Im zweiten Teil sprechen wir über Parkplätze, Nahverkehr, Logistik und die globale Bedeutung der Verkehrswende. Wir werfen auch einen Blick auf die Treiber hinter den Kulissen, also wer in Deutschland denn noch so neben der Politik eine wichtige Rolle spielt und Einfluss nimmt. Der Wandel kann verwirren und Mobilität ist komplex, darum sind es auch die Antworten auf die Probleme. Aber genau darum gibt es den Klimablog. Vereinfachen ist nicht die Lösung, sondern erklären und berichten. Viel zu viele Gerüchte, Hoffnungen und Ansprüche sind mit Unwissenheit der größte Feind der Verkehrswende. Schreib gerne einen Kommentar auf Mastodon und teile diesen Beitrag mit Personen, die das auch lesen sollten. Bis gleich in Teil 2.

Hier geht es zu Teil 2

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