Wir sind schon mittendrin, im Reallabor für eine neue, andere und vor allem klimarettende Demokratie. Weltweit regt sich Widerstand gegen hergebrachte Profitmodelle, immer mehr Wachstum und ultraneoliberale Verantwortungslosigkeit. Dass wir nicht das ganze System wechseln können, also den Kapitalismus beenden, ist (fast) allen klar. Es bleiben nur die Zutaten, welche wir jetzt schon haben. Halbwegs funktionierende Demokratien und heutige Technologien müssen es richten. Doch das Rezept der Suppe kann, ja muss sogar angepasst werden. Zeit bleibt praktisch keine mehr. In Berlin wird in wenigen Tagen dazu abgestimmt. Das könnte große Signalwirkung haben. Schauen wir uns das genauer an.
Warum?
Seit mehr als einem halben Jahrhundert wissen wir Bescheid. Vor 30 Jahren wechselte das Thema von der Wissenschaft in die Weltpolitik. An den folgenden Klimakonferenzen wurde getrödelt, verhandelt und geschachert. Seit dem letzten IPCC-Report ist gnadenlos klar, dass uns nur noch wenige Jahre bleiben, um die globalen Kipppunkte nicht zu überschreiten. Wenn wir diese verpassen, dann kommt es zu unumkehrbaren Dominoeffekten. Die Existenz der Menschheit steht auf dem Spiel. Wer also jetzt mit Wohlstand, gemäßigten Maßnahmen und Bequemlichkeit oder Zukunftstechnologien kommt, der verkennt die Brisanz der Katastrophe. Politische Systeme sind oft mit einer rechtzeitigen Lösung überfordert. Man gibt sich Ziele, die man für realistisch hält – aber im politischen und nicht im klimatischen Sinne. Und das ist fatal. Die Grünen bemühen sich redlich in der Ampel und liefern, werden dort aber oft fies ausgebremst. Der Klimakanzler ist auch keine wirkliche Hilfe. Immer Organisationen und Zusammenschlüsse engagieren sich darum außerparteilich (wie z.B. bei der Verkehrswende) und schöpfen nun die vorhandenen demokratischen Mittel dafür aus.
Was?
So auch in Berlin. Hier wurde gerade nach dem letzten Wahldebakel neu gewählt, Koalitionen sind träge und die neue muss erst noch errungen werden. Derweil tickt die Uhr. Neben diesen Querelen vorbei hat sich ein breites Bündnis in Sachen Klima etabliert, das unabhängig politisiert. Es fordert, dass Berlin als Stadt bis 2030 klimaneutral wird, also nichts anderes als Nettonull erreicht. Komplett ist das zwar nicht möglich, im Sinne, dass nirgends mehr CO2 ausgestoßen und keine belastende Produkte mehr verwendet bzw. hergestellt werden – aber ganz grob gesehen bei den großen Posten wie Heizung, Verkehr und Strom soll das machbar sein und darum festgelegtes Ziel werden.
Wie?
Mittels eines Volksentscheides. Berlinerinnen und Berliner stimmen am 26. März darüber ab. Der Entscheid gibt keinerlei Vorgaben vor, wie das Ziel erreicht werden muss, sondern nur das Ziel selber. Das bundesweite Vorhaben, bis 2045 bei Nettonull zu sein, wird auf 2030 korrigiert und quasi der bereits bindende Staatsvertrag des Pariser Abkommens über die Einhaltung von 1,5 Grad Klimaerwärmung auf Gesetzesebene schärfer festgeschrieben. Die dann regierende Politik wird diesen neuen Zielen verpflichtet sein. Angesichts der gerade erfolgten Neuwahlen und der andauernden Koalitionsverhandlungen ist diese gleichzeitige Änderung der Klimaziele schon fast ein Krimi. Würde es ein erneutes Rot-Rot-Grün wuppen oder sich selber eingeschnappt kritisiert geben? Wird es eine mögliches Schwarz-Grün nicht genau daran zerreißen? Oder kommt alles anders? Berlin befindet nicht nur für diese Legislatur, sondern für seine gesamte Zukunft gerade am Scheideweg.
Von wem?
Viele. Organisationen, Verbände, Unternehmen und auch politisch Nahe wie die Juso und die Grüne Jugend stehen hinter dem Volksbegehren und Volksentscheid. Breit abgestützt formt sich immer mehr eine neue Art der Demokratie, welche nicht nur Politiker wählt, die sich dann selber Ziele aussuchen, sondern ihnen jetzt diese vorgibt. Wie schon oft hier erwähnt, haben wir alle in Demokratien die Möglichkeit aktiv zu werden und fordern zu dürfen. Jetzt passiert das auch tatsächlich auf diesem sehr direkten Weg. 2019 hat die Organisation “Klimaneustart Berlin” erfolgreich gefordert, den Klimanotstand zu erklären. Auch der Klima-Bürger*innenrat, welcher es nun seit 2021 gibt, geht darauf zurück. Für den jetzt anstehenden Volksentscheid mussten zuerst 20’000 Unterschriften für einen Antrag, einen solchen abhalten zu dürfen, gesammelt werden. Dann mussten wiederum 7 % der Bevölkerung beim Volksbegehren diesen bestätigen. Anstatt den dazu nötigen 171.000 Stimmen, kamen deren 261.968 zusammen. Damit war beschlossen, Berlin kann über das Begehren abstimmen. Das Gesetz sieht vor, dass dies eigentlich so weit wie möglich mit anderen Wahlterminen zusammengelegt werden muss. Mit der kruden Ausrede von “Papiermangel” wurden die Termine der eben erfolgten Neuwahl und des Volksbegehrens Klimaentscheid jedoch zeitlich voneinander getrennt. Zwar rief man superprovisorisch Gerichte dagegen an, doch genützt hat es nicht. So müssen also die Bürger gleich schon wieder in die Wahllokale pilgern oder die Briefwahl beantragen. Und genau das ist Risiko und Chance zugleich.
Mit welchen Mitteln?
Was die Politik nach erfolgreich angenommenem Entscheid wohl dann leisten müsste, kann man mutmaßen. Die bereits erwähnten drei Säulen von Verkehr, Heizung und Strom machen den Löwenanteil aus. Beim Verkehr würde der Ausbau von Nahverkehr beschleunigt werden müssen, und zwar über das bestehenden Projekt i2030 hinaus. Dem Volksbegehren einer autofreien Innenstadt ebenfalls ab dem Jahr 2030 würde der jetzige Entscheid wahrscheinlich auch enormen Auftrieb geben. Vieles, was bisher oder künftig noch extrem mühsam erkämpft werden müsste, könne sich mit dem Volksentscheid viel leichter gestalten, weil Politiker händeringend Möglichkeiten suchen müssten, die Ziele erreichen zu können. Ihnen werden darum auch radikalere Maßnahmen als heute recht sein. Bei der Heizung würden mehr Wärmepumpen im Speckgürtel gefördert werden müssen und im Kern die Fernwärme klimaneutral umgestellt werden. Das steht mit dem Kohleausstieg Berlins ab 2030 sowieso an und Vattenfall möchte lieber heute als morgen aussteigen, die Stadt gerne kaufen und eben auf klimasichere Technologien umrüsten. Doch dazu fehlt Geld bzw. vielleicht je nach Koalition auch der Wille. Der Volksentscheid würde hier einfach Tatsachen schaffen, die sowieso kommen – aber entscheidend beschleunigt. Beim Strom ganz ähnlich. Die vielen lokalen Kraftwerke, besonders mit Gas, machen sowieso keinen Sinn mehr, die Stadt hat mit den eigenen Stadtwerken, welche hier ausschließlich für grünen Storm zuständig sind, eine gute Basis gelegt. Mehrere Studien, unter anderem des Fraunhofer-Institut, bestätigen zudem die Machbarkeit einer rascheren Klimaneutralität. Es geht schlussendlich um entscheidende 7 anstatt 22 Jahre bis Nettonull. All das ist aber nicht im Volksentscheid festgeschrieben, sondern es sind nur sehr wahrscheinliche und logische Konsequenzen, auf welche dann die neue Regierung Berlins mit geeigneter Politik reagieren muss.
Chancen
Zuerst sah alles ziemlich schlecht aus. Die Bürger würden nach der Neuwahl wahlfaul nicht gleich schon wieder einen Sonntag opfern wollen. Doch es kommt eigentlich eher auf das Verhältnis der Abstimmenden an, als auf deren Menge. Viele, die gerade auch im älteren Altersspektrum von konservativen Parteien mobilisiert wurden, könnten der Wahl fernbleiben. Hingegen von der Wahl enttäuschte Wähler könnten umso mehr doch noch ein zweites Mal an die Urne pilgern. Und dann sind da auch noch die Aktivisten der Letzten Generation sowie der globale Klimastreik, welche sehr aktuell und sehr emotional die Bevölkerung zu Reaktionen in die eine oder andere Richtung treiben könnten. Also alles in allem ziemlich viel Unabsehbarkeiten. Doch der getrennte Termin könnte sogar tatsächlich auch zum Vorteil werden.
Viel eher muss man aber auch über die Chancen für die Stadt bei einem Ja zum Entscheid sprechen. Berlin ist in der relativ bequemen Lage, keine enorm energieintensive Industrien zu besitzen, wie z.B. Stahlverarbeitung. Der die letzten Jahre generell eingeschlagene Weg zum Standort für Medizin, Biotechnologie oder auch die Startup-Ökonomie und andere wichtige Branchen vertragen sich ganz gut mit diesem richtungsweisenden Volksentscheid. Gelänge er, würde das nicht nur innenpolitisch in Deutschland viel an Vorbildwirkung auslösen, sondern gar weltweit ein Signal senden. Man würde nicht nur zu Paris als Stadt, sondern auch zum eigentlich von ganz Deutschland ratifizierten Abkommen von Paris aufschließen. Als Hauptstadt der viertgrößten Volkswirtschaft der Erde stehen einem bitter notwendige Klimaziele, welche sich wirklich am Klima und nicht an der Wirtschaft orientieren, besonders gut. Ganz egal, welches Image Berlin innerhalb des Landes genießt. Doch auch gerade die Wirtschaft könnte enorm profitieren. Denn weltweit ist das Rennen Richtung Nettonull längst in vollem Gange. Wer zuerst ankommt, der spart Geld, der ist voraus, der beherrscht vor allen anderen die dazu notwendige Technologien wie auch die dazugehörende Politik und kann damit handeln. Als Wissenstransfer und mittels Zertifikaten. Wer zu spät kommt, der wird viel tiefer in die Tasche greifen müssen. Hoch mobile Fachkräfte wollen in grünen, lebenswerten und zukunftsorientierten Städten leben und nicht im autogerechten Boomertraum der Sechzigerjahre einer CDU oder FDP (wenn du dich angesprochen fühlst, bitte vorher hier lesen). Wenn die Rahmenbedingungen geklärt sind, können Firmen auch investieren und das werden sie dann speziell in Berlin tun, wenn klar ist, dass hier Zukunft und klimagerechte Geschäfte winken. Auch der Bildungsstandort würde enorm gestärkt. Viele Arbeitsplätze würden für diese schnellere Klimaneutralität entstehen. Und ganz generell würden Hoffnung und ein Aufwachen nach dem hässlichen, nur auf Autopolitik ausgerichteten Wahlkampf ganz guttun.
Risiken
Neben den Unsicherheiten rund um den Wahltermin, die Wahlbeteiligung und das Geschehen in den nächsten Wochen gibt es eigentlich nicht wirklich Risiken, sondern nur Gewinnchancen. Außer Parkplätzen hat Berlin nicht wirklich viel zu verlieren – keine Schlüsselindustrie und nicht Dinge, die sowieso gehen müssen. Einziger Klotz am Bein ist die Politik. Alle Parteien sind dagegen. Bis auf die Grünen, denn Bettina Jarasch hat sich zum Klimaentscheid bekannt und damit die grüne Position deutlich für das Klima gesetzt. SPD, FDP und CDU sind dagegen, dass man ihnen vorschreibt, die Welt innerhalb der wissenschaftlich noch tolerierbaren Grenzen zu retten. Muss man sich mal vorstellen! Die Linken schwanken – nicht nur gebeutelt von der eigenen Spaltung, sondern auch wegen der fixen Idee, schnellere Klimaneutralität sei nicht sozialverträglich. Dabei geht es nur um Ziele und nicht um die Umsetzung. Und im Volksentscheid bzw. dem Gesetzestext steht deutlich, dass vor allem Sanierungsmaßnahmen an Häusern nicht zulasten der Mieter gehen dürfen. An dieser Stelle muss man auch erwähnen, dass vor allem Arme zuerst von Klimaauswirkungen betroffen sein werden und dazu auch noch am stärksten von allen Schichten. Je mehr und schneller wir reagieren, je weniger kostet uns die Zukunft und je weniger Schäden treten ein bzw. je besser kann vorgebeugt werden. Und nur das ist wirklich sozial. Doch die Grünen werden nicht alleine regieren können, und der Koalitionspartner also nicht für den Volksentscheid sein. Genau diesem Dilemma und dieser Pattsituation wie in der Ampel können Bürger aber am 26. März mit einem Ja vorbeugen. Es ist eine Abkürzung und umgeht lange Jahre der Diskussion und des Stillstandes. Denn Volksentscheide, wie z.B. bei der Enteignung, sind meist nicht sakrosankt. Doch mit dem klaren Auftrag des Zeitzieles 2030 gibt es da nichts zu verwässern.
Fazit
Wenn es nicht mal das “woke” Berlin hinkriegen kann, wer den sonst? Das könnte auch bitterer Irrtum werden, denn wenn eine andere Stadt diese Lücke füllt – vielleicht eine größere als Hannover mit seinem aktuellen Schulterschluss mit der Letzten Generation – dann wird halt diese profitieren. Und zwar auf Kosten von Berlin. Deutschland würde ein grünes Berlin zudem international extrem guttun. Wer liefert, kann auch fordern. Wer Vorbild ist, darf auch Kritik üben. Und wer weiß, was er will, kann auch vom Bund mehr Geld dafür verlangen. Andere Länder machen gute Erfahrungen mit beschleunigter Klimademokratie. Es wird Zeit, dass wir uns in Europa emanzipieren und Antworten auf die US-Subventionsschlacht finden. Ein Clean-Tech-Powerhouse in der Tradition deutscher Ingenieurskunst bedeutet Zukunft, Sicherheit, Machbarkeit, aber auch schlicht Macht. Berlin könnte endlich wirklich zur Hauptstadt werden. Wenn du das vor Ort liest, dann beantrage jetzt die Briefwahl und sage Ja zum vielleicht wichtigsten politischen Entscheid deines Lebens. Denn so, wie es ist, kann es nicht weitergehen. Mach Berlin zu deinem Emeryville!